Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
Artikel teilen
Artikel teilen >

922 Jahre zwischen „Cherres“ und Karres

Urkunden und Schriftstücke bestätigen, dass die Tschirgantgemeinde um 200 Jahre älter als bisher angenommen ist

„Ein Volk ohne das Wissen um seine Vergangenheit wäre wie ein Baum ohne Wurzeln“, meinte einst ein bekannter Aphorismus. Darin liegt viel Wahres. Sich seiner Geschichte bewusst zu werden, ist viel mehr als nur ein melancholischer Blick zurück in längst vergangene Tage. Nicht unbedeutend erscheint in jeder Chronik die erstmalige Erwähnung eines Ortsnamens oder eines Gotteshauses, liegt darin doch ein ernstzunehmender Nachweis eines Dorflebens. Dies gilt auch für Karres, eine Gemeinde im Oberland mit mehr als 600 Einwohnern, am sonnigen Südhang des Tschirgantmassivs gelegen.
18. Jänner 2021 | von Gebi G. Schnöll
922 Jahre zwischen „Cherres“ und Karres
Bei Archivrecherchen im Zuge der Außensanierung der Pfarrkirche Karres gelang die sensationelle Entdeckung. Der Dorfname Karres („Cherres“) ist nachweislich um die 922 Jahre alt. RS-Foto: Schnöll
Von Gebi G. Schnöll

Nahezu alle bisherigen Chroniken verwiesen auf das Güter- und Steuerverzeichnis des Tiroler Landesfürsten Meinhard II. aus dem Jahr 1288. Es galt als erste urkundliche Erwähnung von „Cherres“ (Karres). Der Schreiber dieser mittelalterlichen Urkunde vermerkte auf Pergament ein Lehen eines „Gebhard in Cherres“, das dem Tiroler Landesfürsten abgabepflichtig war. Das Güterverzeichnis führt insgesamt 196 landesfürstliche Besitzungen im damaligen Gericht St. Petersberg bei Silz an, die für Geld oder Naturalien belehnt wurden. Sieben weitere in der Urkunde erwähnte Güter könnten im Gemeindegebiet von Karres gelegen und dem Landesfürsten Meinhard jährlich Naturalien abgeliefert haben. Das Urbar, wie ein derartiges Güter- und Steuerverzeichnis auch genannt wird, gibt detailliert Auskunft über jährliche Bringschuld: „In Cherres Gebehartes lehen giltet: roke (Roggen) und gerste 6 mutte gehaufter maze (Getreide musste gehäuft in einem bestimmten Gefäß abgegeben werden) , 2 pfert (Pferd), 2 fleish (vermutlich zwei Schweinschultern), 1 lamp (Lamm), 1 chitze (Kitz), 2 huner (Hühner), 30 ayer (Eier).“ 

GESCHICHTE VON KARRES KANN UM 200 JAHRE VORDATIERT WERDEN. Pfarrer Johannes Laichner, der die Pfarre Karres betreut und sich als studierter Archäologe intensiv mit der Geschichte der Pfarre befasst, erklärt:Die Abgabepflicht von zwei Pferden deutet auf ein größeres Landgut hin, das mit genügend landwirtschaftlicher Acker- und Grünfläche ausgestattet und wohl schon seit geraumer Zeit ertragreich bewirtschaftet war. Es schien bisher schon in der Forschung plausibel, für Karres eine viel ältere Siedlungstradition anzunehmen, als mit dem Jahr 1288 auf diesem Pergament in gestochen schöner Schrift festgehalten worden war. Da ein älterer Nachweis bisher fehlte, blickte man diesbezüglich etwas kleinmütig in die Geschichtsbücher benachbarter Gemeinden. Ortschaften wie Wald und Karrösten freuen sich über einen erheblich früheren Nachweis ihres Dorfnamens. 1070 wurden in einer Schenkungsurkunde nämlich für Walda (Wald bei Arzl) und Oista (Karrösten) Güter angegeben, die zur Zeit des Bischofs Altwin von Brixen (1048 bis 1091) in dessen Besitz übergingen. Mit dem Jahr 2020 und den geschichtlichen Nachforschungen im Rahmen der Außenrenovierung der Dorfkirche sollte Karres namentlich endlich aus dem Schatten der Geschichte treten: Archivrecherchen von Pfarrer Johannes Laichner können dahingehend nun mit einer wesentlichen Korrektur aufwarten und die erste urkundliche Erwähnung von Karres um beinahe 200 Jahre vordatieren. In einem frühmittelalterlichen Güterverzeichnis des Augsburger Domkapitels wird neben vielen anderen Besitzungen auch ein Gut in „Cherres“ (Karres) erwähnt. Die für Karres bedeutsame Urkunde wird um das Jahr 1099 datiert, als ein Bischof Hermann (1096 bis 1133) den Hirtenstab im Augsburger Bistum führte. Das Dokument war der Literatur zwar seit Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, doch fehlte bislang eine zusammenhängende Analyse der in diesem Verzeichnis angeführten Orte. 

RAST- UND LAGERSTÄTTE. Allein schon die verkehrstechnisch günstige Lage von Karres durch seine unmittelbare Nähe zur Via Claudia Augusta, einer seit Römerzeit bedeutsamen Handels- und Hauptverkehrsader von der Adria über die Alpen bis zur Donau und nach Augsburg sowie zum Inntalweg über dem Brenner nach Bozen, gibt diesem Ort und allen Besitzungen des Augsburger Domkapitels an der Augsburger „Weinstraße“ eine gewisse Bedeutung. Die Urkunde spricht von zwei Schenkern mit Namen Otto und Konrad („Otto et kuno obierunt qui dederunt hubam I in cherres et hec spectat ad conductum vini Bozanici.“), die eine „Hube“ in Karres dem Augsburger Domkapitel großzügig überließen. Als Hube wurde eine Hofstelle oder das Eigentumsrecht beziehungsweise die Nutzungsrechte an einem Gemeindegut bezeichnet, die meist einen Besitz von 30 bis 40 Joch (1 Joch = 0,57 Hektar) umfasste. Der vorrangige Zweck des Gutes in „Cherres“ wird mit „ad conductum vini Bozanici“ („zum Bringen des Weines aus Bozen“) angegeben. Fuhrleute konnten dort auf dem Weg von und nach Süden Rast einlegen und unter Umständen auch ihre wertvolle Handelsware, Wein in Fässern einlagern. Mag dieses Güterverzeichnis des Augsburger Domkapitels vor mehr als 900 Jahren Karres vordergründig aus rein wirtschaftlichen Interessen erwähnt haben, bestätigt diese „Hube“ in „Cherres“ zugleich die in der Forschung spekulierte ältere Siedlungsgeschichte des Dorfes. Es liegt nahe, dass Karres nicht an einem Tag am Ende des 11. Jahrhunderts erbaut wurde, sondern der Ort schon Jahrhunderte zuvor Menschen dauerhaft anzog. Diese These belegen archäologische Grabungen in der „Maure“ oberhalb des Dorfzentrums, die die Fundamente einer römischen Landvilla (villa rustica) um 250 n. Chr. freilegten. Jahrhunderte später wird Karres in oben schon genannter „Augsburger Urkunde“ gerade wegen dieser in Römerzeit erprobten verkehrstechnisch günstigen Lage „ad conductum vini“ („zum Transport des Weines“) hervorgehoben. Mag im Augsburger Güterverzeichnis aus dem Jahr 1099 der Name „Cherres“ nur als einer unter vielen Besitzungen des Domkapitels entlang der alten Weinstraße nach Südtirol erwähnt werden, bedeuten diese Buchstaben auf einem frühmittelalterlichen Pergament für Karres doch eine historische Sensation. „Mit Freude kann man nun sagen: Karres tritt vor 922 Jahren aus dem Schatten der Geschichte – rund 200 Jahre früher, als bisher gedacht“, so Pfarrer Johannes Laichner. 
922 Jahre zwischen „Cherres“ und Karres
Urkundensiegel des Augsburger Domkapitels, Anfang 12. Jahrhundert. Foto: Laichner
922 Jahre zwischen „Cherres“ und Karres
Pfarrer Johannes Laichner mit mittelalterlichen Urkunden aus dem Karrer Pfarrarchiv. Foto: Laichner

Feedback geben

Feedback abschicken >
Nach oben