Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Wenn der Zeiger kurz vor Mitternacht steht

Ein Dialog zwischen Malerei und Literatur, in Person von Dora Czell und „Wiederlesen“-Betreiber Dieter Blümel

Eine der seltsamsten Eigenschaften von Schnecken ist ihre erstaunliche Fähigkeit, einer rasiermesserscharfen Schneide entlangzukriechen, ohne je verletzt zu werden. Im Sinne einer Metapher schafft das auch die Menschheit. Doch irgendwann gewinnt das Messer. Vielleicht heute, vielleicht morgen – oder vielleicht auch schon in knappen einhundert Sekunden. So viel Zeit soll uns bis zum Ende noch bleiben, mahnt das Ticken der berühmten Uhr des Weltuntergangs: Für Trotz oder Abkehr, für Wissenschaft oder Gebete. Menschlich, allzu menschlich wär’ das alles miteinander. Aber auch die Hoffnung im Wertschätzen:
In Worten, Bildern und guten Gesprächen. Das alles gibt’s in der Imster Alternativ-Buchhandlung „Wiederlesen“, die nunmehr auch ein Werk der Malerin Dora Czell im Schaufenster weiß.
25. Jänner 2022 | von Martin Grüneis
Wenn der Zeiger kurz vor Mitternacht steht
Zwei, die sich verstehen: Die Malerin Dora Czell (l.), „Wiederlesen“-Betreiber Dieter Blümel (r.) und zwischen ihnen – in Überlebensgröße – das Werk „Huldigung an die Erdgöttin oder das verlorene Paradies“ RS-Foto: Matt
Von Manuel Matt

Scharf umrissen und so nüchtern, dass ihr Worte kaum beizukommen vermögen. Kein Wunder also, dass sich der Mensch ob der ganzen Realität um ihn herum nach dem Immateriellen, dem Spirituellen sehnt. Wie er es schon immer getan hat, sagt Dora Czell lächelnd: „Weil er glauben will.“ Nur sei’s heute eben das Materielle, das angebetet wird. Als „Ersatzreligion“, bedauert die Malerin, „mit Robotern als spirituellen Begleitern“, deren Denken uns fremder und fremder wird. Wie auch unser Ursprung, den wir einst angebetet und uns ausgemalt haben. Zuallererst, schon vor Jahrtausenden als weibliche Gottheit, als Mutter, die uns zwar nicht immer verwöhnt, aber doch reich beschenkt.  Doch wie Kinder oft so sind, danken wir nicht. „Sondern suchen nach Auswegen, uns vor der Verantwortung zu drücken“, sagt Czell: Während Bilder von abgemagerten Eisbären, von schmelzenden Gletschern die Nachrichten beherrschen und dann wenig später, „völlig ohne Zusammenhang“, das zu zaghafte Wachsen der Weltwirtschaft angeprangert wird. „Die Erde kann sich ja nicht vergrößern, also müssen wir unsere Bedürfnisse einmal mäßigen“, zitiert die Künstlerin den in den Vereinigten Staaten wirkenden, aber aus Hötting stammenden Fritjof Capra: „Der Weltraum wird da auch keine Lösung sein.“ Mag stimmen, doch manchmal muss vielleicht doch eine neue Welt her, wenn die alte Heimat in sich zusammenfällt. So wie das alte Haus in der Schustergasse, das gut zwei Jahre lang die Czell’sche Kunstkammer beherbergte und nun abgerissen wird. Da wie dort müsse mehr repariert werden, sagt die Malerin, „und das passt wunderbar zum ,Wiederlesen‘“.

GEFUNDEN. An diese Adresse habe sie da gleich für ein Zurschaustellen gedacht „und an den Dieter, der dann gleich Ja gesagt hat“, erinnert sich die 85-Jährige entzückt. „Sehr gerne sogar“, bestätigt Dieter Blümel, der die alternative Buchhandlung am Sparkassenplatz seit sieben oder auch schon acht Jahren gemeinsam mit Gleichgesinnten für Gleichgesinnte offen hält. So weilt nun in imposanter Größe – und natürlich passend zum vorher behandelnden Thema – das Czell-Werk „Huldigung an die Erdgöttin oder das verlorene Paradies“ in der liebevoll eingerichteten Vitrine des Geschäfts. „Die Größe fällt auf“, freut sich Blümel: „Leute spazieren vorbei, sehen aus dem Augenwinkel und geradezu automatisch folgt der ganze Kopf. Zum genaueren Anschauen – und dafür gehen die Menschen auch gerne zwei, drei Schritte zurück.“ Ein Blickfang also, der zum Anhalten einlädt. „Ich glaube, das hat vor allem mit der Farbe zu tun. Dieses wohltuende Kaminziegelrot, in allen Varianten“, schwärmt der Vermittler von Büchern, die zumeist gebraucht sind, aber stets gebraucht werden. Das Thema hält dann fest, hofft Czell, ist die Darstellung von Mutteridolen doch eine uralte Praxis und geht mit der legendären Venus von Willendorf mindestens zurück auf etwa 27000 Jahre vor Christus. 

UNVERGLEICHLICH. Ob’s in all der Zeit einmal einen Buchladen wie das „Wiederlesen“ gegeben hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Sie kenne jedenfalls nichts, was der charmanten Zuflucht gleichkommen würde, schwärmt Czell: „Voller Bücher und Raum für alle Interessen. Ein Raum zum Finden, für alle leistbar – und nach Schule schmeckt’s auch nicht!“ Nicht minder magisch mutet an, dass nicht nur die passenden Bücher ihren Weg in die Regale finden. „Sondern auch die Menschen, die hierher passen“, freut sich der Hüter der abertausenden Seiten, die weniger auf Käufer, als viel mehr auf neue Augen warten. Seine Augen leuchten dann sogleich auf, als sein Gegenüber das „Wiederlesen“ als „enorme Bereicherung, gerade für die Innenstadt“ würdigt. „Damals war das ein Risiko, wir haben aber daran geglaubt“, erinnert sich der 74-Jährige, „und ich bin froh, dass wir uns nicht getäuscht haben.“ Am allerwichtigsten sei, dass es ein Platz zum Rasten ist: „Es muss nichts gekauft werden.“ Für kein Geld der Welt wäre übrigens das Bildnis der Erdgöttin zu haben. Zumindest nicht  in der Form, wie sie würdig aus der Vitrine ihre Töchter und Söhne grüßt, nur vielleicht als Drucke des kleineren, aber ebenso schönen Original-Ölbildes, das die Malerin bei sich zuhause aufgehängt hat. „Wegen den Drucken, da muss ich noch überlegen“, lässt Czell schmunzelnd wissen. Die Erdgöttin wird Dieter Blümel derweil gut im Auge behalten: Als einer von sieben Menschen, die immer wieder im Laden stehen und dafür nicht bezahlt werden wollen. Das will nur die Miete, der Rest wird gespendet an Hilfsprojekte in Asien und Afrika. So lange zumindest der RUNDSCHAU verschwiegen, darf das ruhig berühren. Wie das Schaffen von Dora Czell, das er in den 70er Jahren zum ersten Mal entdeckt und ihn seitdem nie so recht losgelassen hat. „Obwohl ich gar nicht so tief in der Malerei bin“, streut Blümel die letzten Rosen eines Tages, der langsam zum Abend wird, ehe am nächsten Morgen wieder die Sonne aufgeht. Da kann sie ticken, wie sie will, die Weltuntergangsuhr.
Wenn der Zeiger kurz vor Mitternacht steht
Eine der Großen, die’s können: Die akademische Malerin Dora Czell, die heute in Oetz lebt, die Stadt aber fest im Herzen behalten hat. RS-Foto: Matt
Wenn der Zeiger kurz vor Mitternacht steht
Einer der Guten, der wie seine Freunde lieber gibt als nimmt: Dieter Blümel, das freundliche Gesicht der Alternativ-Buchhandlung „Wiederlesen“ in Imst RS-Foto: Matt

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