Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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80 Jahre Südtiroler Siedlung Reutte

Rückblick – Einblick – Ausblick

Nur wenige Schritte vom meist sehr belebten Reuttener Obermarkt liegt sie da: die Südtiroler Siedlung. Heuer jährt sich zum 80. Mal ihre Erbauung. Ein würdiger Anlass sich mit der Geschichte der Südtiroler Siedlungen im Allgemeinen und jener in Reutte im Besonderen auseinanderzusetzen. Deshalb fand im Rahmen der Demokratiewoche am 17.09. die Veranstaltung „Erinnerungsort Südtiroler Siedlung“ statt.
21. September 2021 | von Von M.Färber
80 Jahre Südtiroler Siedlung Reutte
Wandmalerei bewusst als Propagandamedium eingesetzt. Foto: mjc
Von M.Färber

GEPLANTE HEIMAT. 50 - 60 Interessierte waren gekommen um an den ab 17 Uhr angebotenen Führungen teilzunehmen. Die Reuttener Südtiroler Siedlung entstand – wie die meisten der 43 anderen österreichweit  – zwischen 1939 und 1942 nach der sogenannten „Großen Option“, die eine „Heimführung“ der Deutschsüdtiroler ins „Deutsche Reich“ erzwingen wollte. Über 80 % der ca. 200.000 Wahlberechtigen entschlossen sich damals – teils unter großem Druck und Drohungen – zur Emigration, allerdings wanderten dann tatsächlich „nur“ 75.000 in die „Ostmark“ aus. Das „Sonderkommando S“ machte es möglich, den durch den Kriegsausbruch verhängten Baustopp zu umgehen und auch an schwer zu beschaffende Baumaterialien zu kommen. So gelang es innerhalb von kurzer Zeit Wohnraum für die „Optanten“ zu schaffen. Für deren Planung war hauptsächlich der deutsche Architekt Helmut Erdle (1906-1991) zuständig. Beim Rundgang durch die Südtiroler Siedlung wurde deutlich, dass sein Entwurf überaus durchdacht war. Auf dem damaligen „Gerti-Acker“, einer ca. 20 ha großen zentrumsnahen Ackerfläche, wurden für die Auswanderer in Rekordtempo 18 ein- bzw. zweistöckige Häuser errichtet. Das typisierte Aussehen der Gebäude hielt die Baukosten gering, doch Erdle sparte nicht an Bauelementen, die sowohl an die alte Heimat Südtirol (Holzbalkone) als auch an die neue Heimat Reutte (Kopien der Doppeltreppe vor dem Gemeindeamt) erinnern sollten. Auch breit angelegte Durchgangsstraßen, großzügige Gärten sowie Spiel- und Versammlungsplätze und ein kleiner Lebensmittelladen gehörten zum Erscheinungsbild. Die Fassadenmalereien stellen Szenen aus dem bäuerlichen Leben und Brauchtum dar, allerdings dominieren Motive der „Blut und Boden-Ideologie“, die bewusst zu Propagandazwecken eingesetzt wurden. Die Besichtigung der vom Museumsverein mit viel Detailtreue rückgebauten Schauwohnung machte deutlich, dass Raumeinteilung und Innenausstattung für die damaligen Verhältnisse überaus komfortabel, ja fast luxuriös waren. So gehörten etwa ein eigenes Bad, WC, getrennte Eltern- und Kinderschlafzimmer, sowie eine Küche mit Elektroherd und einer Art Kühlschrank zum Standard. Eine Tatsache, die bei den „Einheimischen“ durchaus Neid schürte und oftmals dazu führte, den „Optanten“ ihre alte Wohnung zu überlassen um sich selbst um eine in der Südtiroler Siedlung zu bewerben.  Eine Führung kann jederzeit über den Museumsverein gebucht werden und empfiehlt sich allen geschichtlich Interessierten.

GEHEN ODER BLEIBEN, ANPASSUNG ODER WIDERSTAND? Der anschließende Festakt um 19 Uhr, der im ehemaligen Siglgeschäft stattfand, wurde von der Rede des Reuttener Bürgermeisters Salchner, der in Begleitung seines Vorgängers Oberer erschienen war, eröffnet. Er unterstrich den Wert der Demokratie, die durch die damalige „Option“ ad absurdum geführt wurde. Es war eine „freie Wahl“ der Bevölkerung zwischen Hitlers Nationalsozialismus und Mussolinis Faschismus. Eine „Wahl“, die bis heute Spuren hinterlassen hat. Der Vorsitzende des Museumsvereins Hornstein führte die kunstgeschichtliche Bedeutung der Reuttener Südtiroler Siedlung aus, die – nach einigen politischen Querelen – seit 2018 zu 53 % denkmalgeschützt ist. Sie stelle einen „steinernen Zeitzeugen“ dar, der unbedingt der Nachwelt erhalten werden müsse. Auch Museumsmitarbeiterin Mag. Maier-Ihrenberger betonte in ihrer Ansprache die Bedeutung der Südtiroler Siedlung als wichtigen Erinnerungsort an Geschehnisse, „die wir nicht vergessen dürfen“. Musikalisch untermalt wurde der Festakt von Maria Dopler.

RISSE. Der gleichnamige Film der jungen Regisseurin Hollaus machte deutlich, welche Wunden die „Option“ in der Südtiroler Bevölkerung hinterlassen hat. In der subtilen Collage aus Bild- und Tonmaterial kamen nicht nur zahlreiche Zeitzeugen zu Wort, es wurden auch Passagen aus Originalbriefen verlesen, die die emotionale Not und die Konflikte innerhalb vieler Familien eindrucksvoll veranschaulichten. Ob „Optanten“, „Dableiber“ oder „Rückkehrer“, alle waren lange Zeit mit Neid, Ausgrenzung und – zumindest – sprachlicher Diskriminierung konfrontiert, diesseits und jenseits der Brenners.

EIN BLICK VORAUS. Viele Südtiroler Siedlungen sind vom Abriss bedroht bzw. wurden bereits durch neue Gebäudekomplexe ersetzt. Jene in Reutte ist im Besitz der Marktgemeinde, die sich künftig in all ihren Handlungsschritten, was Sanierungsarbeiten sowie Um- und Neugestaltung betrifft mit dem Denkmalschutz koordinieren muss. Wünschenswert wäre ein tragfähiger Kompromiss der diesen geschichtsträchtigen und zentrumsnahen Ortsteil behutsam in die Zukunft führt.

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