Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Archaische Natur, traditionsreiche Hütten

Eine Wanderung vom Hahntennjoch über den Scharnitzsattel nach Imst

„Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“, erkannte einst schon Goethe. In Tirol liegt nicht zuletzt das Schöne so nah. Vor allem in den Bergen. Die RUNDSCHAU war nun wieder für ihre Leser unterwegs – in einem Gebiet, das die Bezirke Reutte und Imst nicht nur trennt, sondern auch miteinander verbindet.
6. September 2021 | von Jürgen Gerrmann
Die Geschichte der Muttekopfhütte reicht schon fast eineinhalb Jahrhunderte zurück. Nach wie vor ist sie ein beliebtes Wanderziel.
Von Jürgen Gerrmann.
Das wird ja auch bei zwei Ausstellungen deutlich, die noch bis 30. Oktober parallel in der Wunderkammer in Elbigenalp und im Ballhaus in Imst laufen. Doch, wir gehen nicht „übers (Hahntenn-)Joch“, wie der Titel der beiden Ausstellungen lautet, sondern über den (Scharnitz-)Sattel. Los geht’s freilich dennoch am Hahntennjoch. Mit großer Motivation, denn nun ist ja September, und die Hütten in den Alpen machen - langsam - die eine um die andere zu. Und wir wollen nochmal Bergfreuden erleben, denn der Sommer 2021 hat es ja mit uns Wanderern nicht allzu gut gemeint. Schon nach wenigen Schritten sind wir nun im „Ruhegebiet Muttekopf“. Und es zeigt sich auch hier, dass alles im Leben relativ ist. Denn direkt neben dem unter Schutz stehenden Areal verläuft ja eine Straße, die unter Bikern zu den Top-Routen von ganz Europa zählt und die auch Einheimische gern mal nach Feierabend nur so zum Spaß hin- und herbrettern (wie sich an den Kennzeichen ablesen lässt). Echte Ruhe herrscht hier nur in den kurzen Zeitfenstern, wenn die Motorradfans ihre Maschinen auf der Passhöhe für ein paar Minuten parken, um die herrliche Natur zu bewundern. Denn „Berge sind auch von unten schön“, wie meine Nürtinger Journalistenkollegin Barbara Gosson zu sagen pflegt. Wir aber finden es droben noch weit schöner. Der Aufstieg fällt uns leicht, auch wenn sich der Nebel über das Hahntenn-Kar legt. Oder deswegen: Dadurch hält sich auch der Motorradverkehr drunten in Grenzen. Und so kommen wir dann doch Höhenmeter um Höhenmeter mehr in die Ruhe und auf der anderen Seite des Sattels dann sogar in die Stille. Vor den Erfolg haben indes auch die Berg-Götter den Schweiß gesetzt. Der Steig hinauf zum Scharnitzsattel ist durchaus anspruchsvoll und für gewöhnlich Sterbliche eine Herausforderung. Die Sektion Imst-Oberland des Alpenvereins hat ihn freilich erstens optimal markiert und zweitens hervorragend gesichert, so dass das „Gipfelglück“ sich schon nach kurzer Anstrengung einzustellen vermag. Wobei dieser Ausdruck zwar nicht ganz korrekt, aber doch zutreffend ist: der Scharnitzsattel ist natürlich kein Gipfel, aber mit seinen 2441 Metern doch der höchste Punkt dieser Tour. Und damit sogar knapp 200 Meter höher als die höchste Spitze der Tannheimer Berge: das Gaishorn.
Die herrliche Bergwelt erschließt sich freilich nur partiell auf dem Weg zu unserem ersten Tagesziel: Mal zeigt sich einer der beliebten Imster Klettersteige, mal tauchen braune Bergschafe aus dem Nebel auf. Aber die Muttekopfhütte präsentiert sich bei unserer Ankunft dann doch in klarer Bergluft.

DIE MUTTEKOPFHÜTTE.
Hier wollen wir übernachten, denn nicht nach Hektik und Hetze steht uns der Sinn (die lassen wir getrost im Tal), sondern nach echter, ungeküns-telter Gemütlichkeit. Und für diese Entscheidung werden wir belohnt: durch die Herzlichkeit und Freundlichkeit, mit der der Pitztaler Patrick Zangerl und sein Team diese Hütte führen, und durch eine Küche, die auf einer Berghütte auf 2000 Metern sonst allenfalls selten (wenn überhaupt) anzutreffen ist: Honigmelone mit Speck, dann Wiener Suppentopf, faschierte Laiberl mit Püree und als Dessert ein Coup Danmark plus einem guten Glaserl Wein statt eines 08/15-Tropfens aus der Zweiliterflasche – das erwartet man nicht gerade in Bergsteigerquartieren. Umso größer sind Überraschung und Begeisterung bei allen, die hier in dieser traditionsreichen Hütte beisammensitzen, deren Geschichte an diesem Platz bis ins Jahr 1874 zurückreicht (damals zog man den Vorgängerbau in nur zwei Wochen hoch). Da sieht man dann großzügig darüber hinweg, dass an dem alten Schild an der Außenwand ganz schön geflunkert wird: Die „Muttehütte“ (wie heute die meisten sagen), die sich so romantisch an den vor Lawinen schützenden Felsbrocken schmiegt, liegt nämlich keineswegs auf „2000 Meter Seehöhe“, sondern satte 66 Meter niedriger. Aber, sei's drum!
„Geht's über die Plateinwiese“, hat uns Patrick Zangerl für den Abstieg empfohlen. Auch das ein überaus guter Rat, der abenteuerliche Passagen ebenso beinhaltet wie die Idylle auf den grünen Matten, die urigen Wege durch die Latschen und den herrlichen Blick auf den Tschirgant vom Narrenkreuz.

 
Archaische Natur, traditionsreiche Hütten
Von der Nation Latschen-Brennerei zur urigen Hütte mit einer legendären Wirtin: Nicht nur auf der Terrasse der Latschenhütte geht es gemütlich zu.
DIE LATSCHENHÜTTE.
Und weiter geht’s zu einer wahren Institution auf dem Weg vom und zum Muttekopf: Waltraud Nothdurfter. Natürlich müssen auch wir vor dem endgültigen Abstieg bei ihr vorbeischauen. Man kann sich die Latschenhütte nämlich ohne deren legendäre Wirtin gar nicht mehr vorstellen. Und das aus gutem Grund: Über ein halbes Jahrhundert sind dieses zu allen Jahreszeiten beliebte Ausflugsziel und sie selbst untrennbar miteinander verbunden, und im nächsten Jahr ist sie dann sage und schreibe vier Jahrzehnte die Chefin. Auch die Geschichte der Hütte an sich ist hochinteressant: 1932 erbauten Albert und Rudolf Nothdurfter (ihr Schwiegervater und dessen Bruder) hier ein Gebäude für eine Latschenbrennerei. Und die war überaus erfolgreich: „Latschen-Zuckerl, Latschen-Öl für medizinische Zwecke oder Latschen-Seifen wurden in alle Welt verkauft“, ist die Ur-Imsterin heute noch stolz. 1955 war es freilich vorbei damit. Der Rohstoff, der quasi vor der Hüttentür wuchs, war aufgebraucht. Heute kommt die Welt dann eben zu Waltraud, wie etwa ein Blick auf die bunte internationale Mischung auf der Terrasse zeigt – und auch der in die Küche: Koch Fernando stammt aus Sri Lanka, beherrscht dank der Tipps seiner Chefin die Tiroler Kochkunst perfekt und zählt schon 21 Jahre zum Team, in dem auch Birgit Schaber mit ihren 30 Dienstjahren eine große Konstante ist. Ihre 77 Jahre sieht und merkt man der Wirtin zu keiner Sekunde, in der man mit ihr spricht, an. Ihr Lebenselixier? „Mir geht das Herz auf, wenn ich in der Hütte bin, mein Herzblut pulsiert hier oben.“ Ihrer Selbstbeschreibung „Hüttenwirtin mit Leib und Seele“, stimmt man ohne Wenn und Aber zu.
Wie beflügelt geht es dann hinab ins Tal, wo kurz nach Hochimst noch ein absolutes Glanzlicht auf einen wartet: Die Rosengartenschlucht mit ihren archaischen Felswänden, durch die das Wasser mitten hinein in die Stadt tost, tut alles, um unser Wandervergnügen perfekt zu machen. Zu unserem lachenden Auge gesellt sich indes ein weinendes – darüber, dass die Alpinsaison schon bald wieder vorbei ist. Aber noch sind ja diese beiden traditionsreichen Hütten offen...
Archaische Natur, traditionsreiche Hütten
Mit 2441 Metern ist der Scharnitzsattel der höchste Punkt unserer Wanderung vom Hahntennjoch nach Imst. Der Weg hinauf ist durchaus anspruchsvoll, vor allem bei schlechtem Wetter. RS-Foto: Gerrmann

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