Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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BERGGGESCHICHTEN
Steinböcke, Adler und stürzende Wasser

Eine Wanderung vom Madautal zum Württemberger Haus

„Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“, erkannte einst schon Goethe. Im Außerfern liegt nicht zuletzt das Schöne so nah. Vor allem in den Bergen. Die RUNDSCHAU war nun wieder für ihre Leser unterwegs – zu stürzenden Wassern, stolzen Steinböcken und traditionsreichen Hütten.
24. August 2021 | von Von Jürgen Gerrmann
Vor fast 100 Jahren wurde das Württemberger Haus der Sektion Stuttgart des
Alpenvereins auf 2.220 Metern Höhe erbaut. RS-Fotos: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann


Der Sommer 2021 hat es mit den Fans des alpinen Wanderns leider nicht übermäßig gut gemeint. Aber die Außerferner haben da ja einen großen Vorteil: Sobald das Wetter einigermaßen stabil zu sein scheint, können sie relativ spontan den Rucksack packen, um schwindelnde Höhen zu erklimmen. Und so erging es auch uns in der vorletzten Woche: Die Sonne kündigte ein zweitägiges Gastspiel an – also nichts wie raus in die Lechtaler Alpen! Und um uns einen langen Anmarsch durch die doch erstaunlich langen Seitentäler des Lech zu ersparen, fahren wir mit dem Rad hinein ins wunderschöne Madautal und stellen unsere Drahtesel in der Nähe der Stelle ab, wo sich die Wege zum Württemberger Haus und zur Memminger Hütte teilen. Wir wollen nicht hetzen, sondern richtig genießen, und daher entscheiden wir uns von vornherein zu einer Zweitagestour.

SCHROFFE WÄNDE. 
Also wählen wir bei der Weggabelung den linken Ast, hinein ins Röttal, das sich auch nochmal eine Stunde hinzieht, bevor es dann so richtig losgeht. Eine zackige Steigung wartet auf uns – aber das spüren wir kaum, denn die Kulisse ist einfach zu grandios. Wir durchqueren ein wahres Alpenrosen-Dorado, staunen über die schroffen Wände hier am Talschluss, von denen überall grandiose Wasserfälle zu Tale stürzen. Und als Überraschung wartet dann noch auf fast 2.300 Metern der Schiefersee auf uns. Alles ist ganz wunderbar hier, ein wenig Sorgen bereitet mir lediglich, dass mich Maria aus Pfronten, die mir mit ihrer Familie begegnet (sie bergab, ich bergauf), fragt, wie ich mir das eigentlich mit Arco, unserem Hund, auf dem Felssteig hinauf zum Leiterjöchl vorstelle. Ob ich den da durchtrage? Nun, falls sie das liest, kann ich sie beruhigen: Ihre Mahnung geht mir zwar eine Stunde nicht aus dem Kopf, wo sich die Horrorvorstellung breitmacht, wir müssten kurz vor dem Ziel unverrichteter Dinge wieder umkehren...aber – obwohl es dann vor Ort einem tschechischen Pärchen auf dem Weg nach unten durchaus blümerant (flau, unsicher, schummrig – Anm. d. Red.) wird – hält die Fantasie der Realität nicht stand – die Hände kommen zwar kurz zum Einsatz, aber dem Hund reichen seine vier Pfoten voll und ganz. Kein Wunder, dass sich nach dem Leiterjöchl Begeisterung pur in mir breitmacht: Nicht nur wegen der fantastischen Szenerie mit Blick auf die Berge und hinunter ins Inntal, sondern auch, weil Andrea Walch, die Wirtin vom Württemberger Haus, eigens wegen mir die heimatliche württembergische Fahne aufgezogen hat – und dazu auch noch nicht die des Königreichs, sondern die des Freien Volksstaats Württemberg nach Ende der Monarchie. PS: Im Internet würde an dieser Stelle wohl ein Zwinker-Smiley zu sehen sein. Sei's drum: Andrea ist eine Hüttenwirtin par excellence. Die gebürtige Nesselwänglerin lebt ihre Berufung gemeinsam mit ihrem Mann, dem einstigen Weltcup-Skirennläufer Dietmar Köchlbichler aus Vils, der beim Slalom von Wengen (einem der herausforderndsten überhaupt) auf dem Treppchen stand (nur der Schweizer Lokalmatador Joel Gaspoz war ein kleines bisschen vor ihm); auch wenn sie hier ihre Premierensaison feiern, Frischlinge sind die beiden dennoch nicht, denn Andrea hat stolze 34 Jahre Hüttenerfahrung. Auf acht Sommer auf der Tannheimer Hütte folgten 22 auf der Bad Kissinger und drei auf der Stuttgarter. Was gefällt ihr denn so an ihrem neuen Wirkungsort? „Mir hat das hier einfach getaugt. Der Sommer oben auf den Bergen ist die große Leidenschaft meines Lebens. Drunten im Tal halt ich das einfach nicht aus. Dann der Lackensee über uns, die abgeschiedene Lage – diese Hütte muss man sich erkämpfen. Von Zams her sind es fünf Stunden, das ist der kürzeste Weg aus der Zivilisation zu uns.“ Mit zum Team gehört Hund Cliff, der mittlerweile stolze 14 Jahre auf dem Border-Collie-Buckel hat. Am Aggenstein hat er in jüngeren Jahren Schafe gehütet, nun läßt er es gemütlicher angehen und genießt die Hüttenfreude mit Andreas Hühnern: Zwerg-Seiden, Cochin, Zwerg-Sulmtaler, Sperber und Welsumer picken und scharren da auf 2.220 Metern Höhe. Und Andrea und Dietmar simd so herzlich und haben so viel zu erzählen, dass der Abschied am nächsten Morgen richtig schwer fällt. Aber es nützt nichts: Wir müssen ja weiter. Denn heute wartet eine noch weitere Strecke auf uns – aber auch die ist erfüllt von wunderschönen Erlebnissen. Nach dem Leiterjöchl stellt die Großbergscharte für uns natürlich keinerlei Problem mehr dar (auch hier hätte ein Zwinker-Smiley seinen Platz), aber nun fährt Tirol alles auf, was es zu bieten hat. Andrea hat uns zuvor gesagt, dass sich die Steinböcke hier allenfalls am Abend sehen ließen. Und was machen sie? Sie warten oben auf dem Grat in aller Seelenruhe auf uns! Bei der Rast auf dem Großbergkopf sagen wir einer holländischen Familie, die uns danach fragt, die Namen der Gipfel ringsum, die wir kennen (um sie alle aufzuzählen, bräuchte es wohl mindestens eine Fußball-Halbzeit), wir blicken zum Himmel – und sehen zwei mächtige Adler über uns kreisen. Wie vom Tourismusverband Lechtal genau über dem Adlerweg und in der Nähe der Steilwand bestellt, wo einst die Geierwally den in die Filmgeschichte eingegangenen Horst aushob! Sachen gibt’s!
 
BERGGGESCHICHTEN<br />
Steinböcke, Adler und stürzende Wasser
Einfach eine Idylle: Die Bergsiedlung Madau. Klaus Frey, der Wirt des Berggasthofs Hermine (im Hintergrund) ist der einzige noch dort gemeldete Einwohner.
BAD IM SEEWISEE. 
Leichtsinnig werden sollte man bei aller Euphorie hier freilich nicht. Denn unachtsam zu sein, ist die größte Gefahr auf dieser Tour. Doch Außerferner wissen ja, dass man Schritt für Schritt bewusst setzen muss, wenn man wieder heil unten ankommen will. Christine wagt hinter der Seescharte sogar ein Bad im Mittleren Seewisee, wir brotzeiten  gemütlich am Unteren Seewisee, und dann entscheiden wir uns, nicht den schnellsten Weg hinunter ins Tal, sondern noch den übers Parseiertal zu unseren Rädern zu wählen. Der Weg, erst im Zickzack hinunter über die saftigen Wiesen und dann entlang des wilden Baches, der nach starken Regenfällen oft ein unüberwindliches Hindernis sein kann, ist wunderschön – aber eben auch ein ziemlicher Hatsch. Wie gut, dass am Ziel in Madau noch eine tolle Einkehrstation auf einen wartet: Das Berggasthaus Hermine.

TRADITIONSREICHE WIRTSFAMILE. Gerade dieser letzte Abschnitt der Tour ist eng mit der Familie von Klaus Frey verbunden, der heute mit seiner Frau Helga dieses Traditionshaus führt. Sein Opa war der legendäre Bergführer Josef Frey aus Holzgau, der von 1904 bis 1906 als erster Wirt auf der Memminger Hütte fungierte. „Er war der erste Skiführer im Lechtal und hat auch 33 Jahre die Kemptener Hütte geführt“, erzählt Klaus’ Schwester Mathilde Schlichtherle-Frey vom Team der Elbigenalper Wunderkammer, die so viel über das Lechtal weiß. 1906 übernahm dann auf dem Schutzhaus am Seewisee seine Tochter Hermine das Kommando und wurde später von ihrem Bruder Fridolin abgelöst. Denn die junge Frau hatte mittlerweile Nikolaus Meile, den stolzen Besitzer einer mobilen Säge, geehelicht. Als er in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Lech am Arlberg im Einsatz war, stellte er fest, wie viel dort gebaut und wie konsequent auf den Tourismus gesetzt wurde. „Das wäre doch auch was für uns“, dachte er sich und wagte es: Sieben Kilometer vom Talort Bach entfernt errichtete er ein Wirtshaus, das noch heute den Namen seiner Frau trägt. „Unter großen Opfern wurde diese gastliche Stätte geschaffen, die Unterkunft für 40 Leute bietet“, notierte damals die Zeitung. Das kann man wohl sagen: Die 1.000-Mark-Sperre, die Adolf Hitler 1933 verhängen ließ, um den in Wien ebenfalls diktatorisch regierenden Kanzlerkollegen Engelbert Dollfuß zu stürzen, brachte den Tourismus fast ganz zum Erliegen. Und dennoch schafften es die beiden, wobei sie nur ein paar Jahre später ein weiterer Schicksalsschlag ereilte: Ihr Sohn Karl kam nicht mehr aus dem Krieg zurück. Nach Hermines Tod übergab dann Nikolaus das Berggasthaus an deren Bruder Edgar, den Vater von Mathilde und Klaus, der nun als „einsamer Wirt“ selbst zur Legende geworden ist. Und natürlich bei der gemütlichen Schlusseinkehr so manche Anekdote zu erzählen hat.

STRECKEN-STENOGRAMM. Start und Ziel: Weggabelung Württemberger Haus/Memminger Hütte im Madautal, Länge: etwa 28 km (Tag 1: 9,3 km /Tag 2: 18,5 km), Dauer: etwa 14 Stunden (Tag 1: 5 Std / Tag 2: 9 Std), Höhenunterschied: je etwa 2250 Meter bergauf und bergab (Tag 1: 1.206 m hinauf/340 m runter; Tag 2: 1.047 m hinauf/1.921 m runter).

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