Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Das Mysterium im Altarfenster

In der Georgskapelle von Rieden begegnet einem das berühmte Turiner Grabtuch

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt.
18. Oktober 2021 | von Jürgen Gerrmann
Ein Abbild eines der berühmtesten Symbole der Christenheit als Glasbild in der Georgskapelle von Rieden.  
 RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
„So also hat Jesus ausgesehen!“: Das hab ich gedacht, als ich als kleiner Bub mit meinen Eltern im Turiner Dom vor dem „Santa Sindone“ gestanden bin – dem „Grabtuch Jesu“ also, als das es in der ganzen Welt bekannt ist. Von dieser Berühmtheit wusste ich indes damals vor 60 Jahren noch nichts. Aber dennoch (oder deswegen) hat sich dieses Bild, vor allem aber dieses Gesicht, in mir eingeprägt. Und ich war baff erstaunt, dass es mir nach Hunderten Kirchen und Kapellen, die ich mittlerweile besucht habe, ausgerechnet in der 1900 an der Stelle einer Vorgängerin erbauten kleinen Kapelle von Rieden regelrecht entgegengeleuchtet hat. Und nur da. Ein Riedener hatte sich das wohl sehr gewünscht, wie im Dorf zu hören ist. Und deswegen wurde auch die Kapelle umgebaut. Hinter dem Altar befanden sich nämlich, wie sich heute beim genauen Hinsehen noch erkennen lässt, nämlich ursprünglich zwei Fenster.

UMSTRITTENES OBJEKT.
Das „Grabtuch Jesu“ wird hier in Anführungszeichen geschrieben, weil das 4,36 Meter lange und 1,10 Meter breite Leinentuch unter Theologen, Historikern und anderen wissenschaftlichen Experten hoch umstritten ist. Und zwar nicht erst in der faktenfixierten Gegenwart oder in der Zeit der Aufklärung, sondern quasi seit eh und je. Das erste Dokument, in dem es erwähnt wurde, stammt nämlich aus dem 14. Jahrhundert. Und schon damals votierte einer der für die Anerkennung zuständigen Bischöfe  wohl explizit gegen die Anerkennung als Reliquie. Pierre d’Arcis, Oberhirte von Troyes, berichtete dem Gegenpapst Clemens VII., daß in der Kirche von Irey in der Champagne „in verzehrender Habgier und nicht aus dem Motiv der Hingabe, sondern nur aus Gewinnabsicht ein listig gemaltes Tuch angeschafft wurde, auf dem mit kleverer Fingerfertigkeit das zweifache Bild eines Mannes dargestellt ist und … von dem sie fälschlich behaupten und vortäuschen, daß dies das wirkliche Grabtuch sei, in welches unser Heiland, Jesus Christus, in der Grabesgruft eingewickelt war.“ Des Bischofs Skepsis war  nicht ohne Grund: Zu jener Zeit herrschte ein regelrechter Boom an Grabtüchern dieser Art. Und von jedem wurde behauptet, es sei das echte. Damals zeigte die Kirche auch keinerlei Interesse, die zentrale Glaubensreliquie (so sie denn echt war/ist) in ihren Besitz zu bringen. Über die verschiedensten Adelsfamilien kam das Buch dann an das spätere italienische Königshaus Savoyen und wurde erst Ende des 20. Jahrhundert dann der katholischen Kirche übereignet.

INTENSIV ERFORSCHT.
Jeder Zweifel hat freilich auch etwas Gutes: Die zum Teil heftigen Debatten führten auch dazu, dass sich die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen daran versuchten und das Tuch mittlerweile zu den weltweit am meisten (und vermutlich auch besten) untersuchten archäologischen Zeugnissen gehört. Dem stand die Kirche übrigens nie entgegen. Und sie behauptet auch nicht, es handle sich um ein Original, in dem Jesus tatsächlich eingewickelt gewesen sei, sondern stuft Santa Sindone als Ikone ein – und hebt es damit aus den Reihen „bloßer“ Kunstwerke heraus. Mit ihm lasse sich durch die Versenkung des Betrachters mithin doch eine Verbindung zu Gott erleben. Für die  Verfechter der Echtheit handelt es sich sogar um ein Archeiropoieton – also um etwas von Gott Geschenkten, das nicht vom Menschenhand erschaffen worden sei.
Wie dem auch sei: Diese Sehnsucht nach der innigen Verbindung zu Gott dürfte auch der Grund sein, warum das Leintuch als Glasfenster in diesem kleinen Gotteshaus präsent ist. In dem farbenprächtigen Umfeld scheint einem das „Antlitz Jesu“ quasi als Schwarz-Weiß-Foto entgegen. Auch passend: Denn zum weltweiten Ruhm des Tuches trug insbesondere die Erfindung der Fotografie bei. Das Erstaunliche an diesen ersten Aufnahmen von 1898, die der Piemonteser Anwalt und Fotograf Secondo Pia gemacht hatte, war nicht zuletzt dies: Im Negativ sah man die Details im Grunde viel besser als auf dem eigentlichen Bild. Dies griff der damalige Papst Benedikt XVI. im Mai 2010 auch in einer Meditation als „das Bild des Karsamstags“ auf: Das dunkelste Geheimnis des Glaubens (Jesu Tod also) sei zugleich das „hellste Zeichen einer Hoffnung, die keine Grenzen hat“. Das Leintuch sei eingetaucht in die Dunkelheit des „Niemandslandes des Karsamstag“ zwischen Tod und Auferstehung. Aber  unzählige Menschen kämen zu ihm, weil sie in ihm eben nicht nur Dunkelheit sähen sondern auch das Licht. Und vermutlich gilt das nicht nur für Turin,  sondern auch für Rieden. Denn diese Botschaft braucht im Grunde keinen Dom. Raum dafür ist in der kleinsten Kapelle. So viele Experten und Wissenschaftler sich bisher mit diesem Tuch auf befasst haben: Sein Rätsel ist bisher nicht gelöst. Aber ist das wirklich wichtig? Manchmal kann ja ein Rätsel mehr ein- oder erleuchtender sein als seine Lösung…

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