Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Der „inoffizielle“ Nothelfer

Die Kapelle auf der Geißel bei Biberwier trägt den Namen des heiligen Rochus

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Biberwier.
20. Juni 2022 | von Jürgen Gerrmann
Ein Pilger mit einer Pestbeule am rechten Oberschenkel: So wird der heilige Rochus seit alters her dargestellt – auch in „seiner“ Kapelle in Biberwier.
Von Jürgen Gerrmann.
Idealer könnte ein Postkartenmotiv eigentlich nicht sein: Eine Sommerwiese in saftigem Grün, darauf ein altes Kirchlein mit einem ebenso riesigen wie eindrucksvollen Christophorus-Gemälde an der Fassade (1928 von Hans Valentin sowohl einfühlsam wie heute noch modern anmutend geschaffen), dahinter ein Wäldchen, das sich vor der imposanten Kulisse des Wettersteinmassivs erhebt – wenn man der Loisach entlang in Richtung der Obermähder am Ortsrand von Biberwier auf die Geißel spaziert, umfängt einen eine Atmosphäre, wie sie wohl jeder „Flachländer“ sich als typische Alpenlandschaft vorstellen würde. Freilich: Eine Kapelle dort wurde nicht gebaut, um eine Idylle zu gestalten – das hatte im Gegenteil eine schreckliche Ursache: 1611 wütete in ganz Tirol die Pest und verschonte auch Biberwier nicht. Die Toten begrub man fernab des Dorfes, fürchtete man doch, dass sich ansonsten die Seuche noch rasanter ausbreite. Steht man vor dem niedrigen Mäuerchen, das den einstigen Pestfriedhof heute noch umfängt, so vermag einen das nach wie vor noch anzurühren.

ALTAR ALS ERSTLINGSWERK.
Zu Maria Himmelfahrt 1625 übergab sie der Brixener Weihbischof Anton Crosini als einer seiner ersten Amtshandlungen (er war erst kurz zuvor vom Generalvikar, der indes den Bischof schon im Tiroler Landtag vertreten hatte, in seine neue Position aufgestiegen) den Biberwierern zum liturgischen Gebrauch. Schon bei dieser Weihe existierte dort der Hochaltar mit Maria mit dem Kinde als Mittelpunkt. Sie wird indes von den zwei „Haupt-Pestheiligen“ flankiert: Links von Sebastian (auf den wir schon im Zusammenhang mit der Sebastianskapelle im Tannheimer Ortsteil Berg ausführlich eingegangen sind) und rechts von Rochus, dessen Name das 1691 grundlegend um- und neugebaute Gotteshaus denn auch trägt. Dieses wunderbare sakrale Kunstwerk war übrigens ein Erstlingswerk: Das hat nämlich „Hanns Pötsch, Pilthauer von Landögg“ auf der Rückseite selbst vermerkt. Das war im Jahre 1618 und er gerade „meines Alters 18 Jahr“ als er „lödigen Stands“ diesen Altar „zum ersten Mal geschnitten“ hatte. Ihm zur Seite stand der Vilser Maler Michael Biller, der als 27-jähriger Junggeselle auch seinen ersten Altar gestaltete. Und aus „Vilß“ stammte auch Christian Petz (22), der „die Dischlerarbeit für wahr gemacht hat“. Für den Jüngsten des Trios war das Gesellenstück offenkundig eine gute Referenz, denn heute gilt er als erster bedeutender Bildhauer des Frühbarock in Tirol.

STUDIERTER MEDIZINER.
Dass die Kapelle am Rande des Außerfern diesen Namen trägt, liegt sicher auch daran, dass Rochus zu Pestzeiten einer der populärsten Heiligen war. Sein Name hat übrigens dieselbe Bedeutung wie der des Apostels Petrus: Fels heißt auf Französisch „roche“, und das wandelte man durch die Endung ins Lateinische um. Die italienische Namensform lautet wiederum rocco – und so heißen laut Ökumenischem Heiligenlexikon allein in diesem Land 3000 Kirchen (die berühmteste ist wohl San Rocco in Venedig), 74 Orte und 36 Bezirke großer Städte. Rochus war (locker formuliert) gewissermaßen „vom Fach“, hatte er doch in seiner Heimat Montpellier in Südfrankreich ein Medizinstudium absolviert. Diese Stadt nahm die Pest besonders hart in den Würgegriff: 1358 und 1361 fielen über Monate hinweg täglich bis zu 500 Menschen dem „schwarzen Tod“ zum Opfer. Auch Rochus verlor beide Eltern, als er 17 war. Sein nicht unerhebliches Erbe als Sprößling  einer Adelsfamilie interessierte ihn nicht, und im Gegensatz zu den meisten Millionen- und Milliardenerben von heute verteilte er sein gesamtes Vermögen an Arme und schloss sich dem dritten Orden der Franziskaner an. Bei einer Wallfahrt nach Rom wurde er in Acquapendente in der Provinz Latium wieder mit dieser Geißel der Menschheit konfrontiert. Drei Monate engagierte er sich bei der Pflege von Pestkranken. Seine Therapie entsprach indes nicht dem damaligen medizinischen Mainstream: Er heilte die Siechen allein durch das Zeichen des Kreuzes. Das tat er denn auch in der Ewigen Stadt mit Erfolg, aber noch ohne jegliches Ansehen. Nach zwei Jahren wollte er wieder in seine Heimatstadt, infizierte sich aber in Piacenza in der Po-Ebene beim Bemühen um von der Pest Geschlagene selbst. Und musste die Erfahrung machen, was Zwei-Klassen-Medizin bedeutet: Da er kein Geld hatte, schickte man ihn im Spital wieder weg. Rochus schloss der Legende zufolge mit dem Leben ab, ging in einen nahen Wald und wollte nur noch in Ruhe sterben. Freilich: Plötzlich tat sich neben ihm eine Quellle auf, die ihn mit Wasser versorgte, ein Hund brachte ihm täglich Brot und leckte ihm seine eitrigen Beulen. Dessen Herrchen war übrigens der Schlossherr vom nahen Sarmato: Gottardo Pallastrelli. Der war nach Rochus’ Heilung (durch einen Engel) so von dessen Eremitendasein angetan, dass er diesem Beispiel folgte, seinen Besitz aufgab und selbst zum Einsiedler wurde. Nach ihm soll auch einer der wichtigsten Alpenübergänge benannt worden sein: Der Gotthardpass in der Schweiz (andere bringen den mit dem heiligen Godehard von Hildesheim in Verbindung). Auf jeden Fall gilt er als erster Biograf Rochus’ und als Einziger, der ein zeitgenössisches Porträt von ihm zeichnete, das man in der Annakirche von Piacenza zu betrachten vermag. Dieser Stadt nahm der Franzose die Zurückweisung offenkundig nicht übel, er kehrte nämlich dorthin zurück und kümmerte sich erneut um Pestkranke. Dann wollte er doch wieder heim, indes hatte er erneut Pech: In der Nähe von Pavia geriet er zwischen die Fronten eines Krieges zwischen dem Herzog von Mailand und dem Papst und wurde als vermeintlicher Spion in den Kerker von Voghera (60 Kilometer südlich der lombardischen Metropole) geworfen. Eigentlich eine gar nicht so schlechte Voraussetzung, denn Rochus’ Onkel fungierte dort als Stadtoberhaupt. Dennoch verzichtete er darauf, sich zu erkennen zu geben und verharrte bis zu seinem Tod, der auf den 16. August 1379 datiert wird, im Gefängnis. Erst auf dem Sterbebett offenbarte er sich einem Priester. Es wäre wohl auch erfolglos gewesen, sich weiter als ganz normaler Pilger zu geben. Denn nachdem er das Zeitliche gesegnet hatte, entdeckte man das kreuzförmige Muttermal auf seiner Brust, das (so die Legende) „immer größer und schöner geworden war“. Bestattet wurde er in der Kirche seines Sterbeortes, die heute seinen Namen trägt.

POPULÄRER HEILIGER.
Die Beliebtheit des Heiligen, der meist als Pilger mit einer Pestbeule am rechten Oberschenkel (in Biberwier auch) und oft auch noch mit einem Hund, der ein Brot im Mund trägt (von Hans Patsch nicht) dargestellt wird, über die Jahrhunderte hinweg spiegelt sich auch in seinem „Zuständigkeitsbereich“ wider: Er fungiert als Patron der Kranken wie der Ärzte, der Chirurgen wie der Apotheker, aber auch der Bauern, Gärtner, Schreiner, Pflasterer, Bürstenbinder, Totengräber sowie der Gefangenen und gar der Kunsthändler. Das Vieh soll er ebenso wie die Krankenhäuser beschützen und vor Pest und Cholera, sonstigen Seuchen, Tollwut, Fuß- und Knieleiden sowie allen Unglücksfällen behüten. Eine lange Liste also. Doch obwohl Rochus keiner der „offiziellen“ 14 Nothelfer ist, ruft man ihn seit aller Zeit in allerlei Not an. Durchaus ein Zeichen des Vertrauens.

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