Eine Wanderung auf Wallfahrerspuren von Holzgau nach Oberstdorf
„Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“, erkannte einst schon Goethe. Im Außerfern liegt nicht zuletzt das Schöne so nah. Vor allem in den Bergen. Die RUNDSCHAU war für ihre Leser unterwegs – und traf dabei auf wunder-volle Ereignisse, stürzende Wasser und überwundene Grenzen.
Von Jürgen Gerrmann
Sorge um das Klima – das ist keine Erfindung des High-Tech-Zeitalters. Gerade in den Zeiten, als sich die Industrie noch nicht Bahn gebrochen hatte, spürte man sie besonders intensiv. Und in ihr liegt auch die Wurzel der wunderschönen Wanderung, um die sich unsere heutige Berggeschichte dreht.
Das 17. Jahrhundert ging in die Klimahistorie keineswegs als eine besonders heiße Epoche ein. Im Gegenteil. Experten verorten es gar in die „kleine Eiszeit“: also alte, lange Winter und nasse, kühle Sommer.
Schnell erhörte Bitte.
Im bäuerlich geprägten Lechtal scheint es indes etwas anders gewesen zu sein. Dort litten die Menschen unter einer langen Dürre. Sie war offensichtlich so stark, dass man Hilfe nur noch von oben erhoffte – der Schöpfer selbst sollte es richten. Und deswegen entschloss man sich 1663 zu einer Wallfahrt über die Allgäuer Alpen. Dort war just in jener Zeit die Wallfahrtskapelle Maria Loretto im Stil des Rokoko neu errichtet worden.
Der Glaube kann Berge versetzen – in diesem Fall musste man zwar dennoch übers Mädelejoch. Aber geholfen scheint das Gelübde dennoch zu haben. Als man jenseits der Berge eintraf, goss es bereits in Strömen. So wurde es zumindest aus damaliger Zeit berichtet.
Auf jeden Fall etablierte sich der Bittgang für fast eineinhalb Jahrhunderte. Und hatte (wie man heute sagen würde) durchaus auch „Eventcharakter“. Ihm ging es wohl so wie der Wallfahrt von Reutte nach Ettal, über die Reuttes Historiker Richard Lipp schrieb, sie sei wohl auch deswegen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit ein Dorn im Auge gewesen, weil sich außer himmlischem Segen auch höchst weltlicher (Kinder-)Segen eingestellt habe.
Im Grunde kein Wunder. Denn, um am selben Tag wieder vom Iller- zurück ins Lechtal zu kommen, war die Strecke dann doch zu weit. „Die Leute haben halt auch drüben im Allgäu übernachtet“, schmunzelt auch Elmar Huber, der frühere Holzgauer Pfarrgemeinderatsobmann, der sich als Lehrer natürlich intensiv mit der Heimatgeschichte befasst hat.
Dass die Holzgauer Wallfahrt indes nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart und Zukunft hat, ist übrigens dem damaligen Holzgauer Pfarrer Markus Sommer zu verdanken, der zu Beginn der 90er Jahre in der Lorettokapelle ein Votivbild entdeckte und dem Impuls gab, diese Tradition wieder aufzunehmen. Seit 1992 trägt man das Kreuz wieder übers Mädelejoch – mal von Tirol ins Allgäu, mal wieder zurück.
Erst vor ein paar Tagen war es wieder so weit: Rund 50 Holzgauer machten sich wie eh und je am letzten Sonntag im August auf den beschwerlichen, aber wunderschönen Weg, rasteten zunächst an der Oberen Roßgumpenalm, trafen sich auf dem Mädelejoch mit den Wallfahrtsfreunden aus Oberstdorf und machten dann gemeinsam mit ihnen auf dem Weg bergab an der Kemptner Hütte, der Kapelle Maria am Knie, in der Spielsmannsau und am Holzgauplatz Station und feierten zum Abschluss eine Messe in der Lorettokapelle.
Viel „Gegenverkehr“ am Wochenende.
An eine Wallfahrt fühlt man sich freilich nicht nur an einem Tag im Jahr erinnert. So herrlich diese Tour auch ist: Wenn es irgend geht, sollte man dort zwischen Montag und Donnerstag unterwegs sein. Am Wochenende nämlich starten die Alpinschulen mit ihren Gruppen auf der E5 gen Meran. Und da geht es (vor allem auf dem schmalen Pfad durch das Sperrbachtobel) schon sehr eng zu.
Während der Woche bleibt da viel mehr Zeit, all die Schönheiten zu bewundern, die sich da wie an einer Perlenschnur aufreihen. Beim Simms-Wasserfall zum Beispiel kommt wohl keiner, der es nicht weiß, auf die Idee, dass es sich dabei keineswegs um ein Naturschauspiel handelt, sondern dass ihn der britische Automobilpionier Frederic Simms (ein Freund von Gottlieb Daimler und Robert Bosch) vor rund 120 Jahren erst in den Fels sprengen ließ. Seine Leidenschaft fürs Lechtal (über dem er auch die nach ihm benannte Simms-Hütte bauen ließ) beruhte übrigens auf einem persönlichen Tipp von Kaiser Franz Joseph höchstselbst. Steht zumindest im Internet. Auch das wäre ein Wunder: Seiner Kaiserliche Hoheit war nämlich nie dort.
Die Idylle des Höhenbachtals kann man ganz in der Nähe in aller Gemütlichkeit genießen: Dort nämlich lädt das Café Uta zur ersten Rast und Stärkung ein. Denn immerhin hat man noch 700 Meter hinauf zum Mädelejoch – wohl nicht nur geografisch dem Höhepunkt dieser Tour.
Die Grenze und der Himmel.
Dort findet man nicht nur einen erst im vergangenen Jahr errichteten Bildstock mit der tief berührenden Skulptur „Begegnung“ des Oberstdorfer Bildhauers Andreas Ohmayer, sondern auch einen Grenzstein aus dem Jahre 1844. Zu jener Zeit, als Franz Joseph noch nicht Kaiser war (sondern dessen Onkel Ferdinand) und Deutschland noch gar nicht existierte, schlossen das Kaiserreich Österreich und das Königreich Bayern einen Vertrag, der die Nord-Grenze der Gefürsteten Grafschaft Tirol und Vorarlberg von dessen Grenze zu Salzburg bis zum Bodensee regelte. Da wurde festgelegt, dass Jungholz hinfort zweifelsfrei zu Tirol, Spielmannsau (das Ziel dieser Tour) hingegen zu den blau-weißen Nachbarn gehören sollte.
Freilich: Wer dort oben sitzt und in die Stille eintaucht, der spürt auch, wie überflüssig Grenzen in Europa heutzutage sein können. Die österreichische Tafel rostet auf dem Boden vor sich hin, das deutsche Schild ist mit so vielen Aufklebern übersät, dass man nur noch an der gelben Farbe drunter erahnen kann, worum es sich eigentlich handelt.
Der Himmel, zu dem (nicht nur) die Wallfahrer beten, kennt ohnehin keine Grenzen.