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„Die geplante Heimat“

Museumsverein Reutte hat die Musterwohnung in der Südtiroler Siedlung fertiggestellt

Reutte hat einen großen Schatz – und leider einen von vielen allzu verkannten: die einzige noch komplett erhaltene Südtiroler Siedlung im ganzen Land. Warum sie entstand und wie die Menschen dort in den ersten Jahren lebten – das möchte der Museumsverein Reutte im Rahmen seines jüngsten Projekts aufzeigen. Am Samstag, 10. Oktober, kann man (sofern die Corona-Lage es zulässt) bei der abgespeckten „Nacht der Museen“ zum ersten Mal einen Blick in eine Musterwohnung werfen.
5. Oktober 2020 | von Jürgen Gerrmann
Durchaus mit hohem Standard waren die mitten im Zweiten Weltkrieg gebauten Wohnungen in der Südtiroler Siedlung eingerichtet. Das zeigt auch der vom Museumsverein Reutte eingerichtete Museumsort. Kuratorin Birgit Maier-Ihrenberger steht hier neben einem damals top-modernen Elektroherd. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Dieser „Erinnerungsort“ (so Projektleiterin Birgit Maier-Ihrenberger) spiegelt ein ebenso einschneidendes wie trauriges Kapitel der Tiroler Zeitgeschichte wider: die so genannte „Option“. Viele Tiroler hatten ja gehofft, dass Adolf Hitler, nachdem er in Österreich einmarschiert war, die Schmach des Vertrags von Saint Germain tilgen und Südtirol aufgrund seiner Freundschaft zu Benito Mussolini wieder vom italienischen Joch befreien würde. Doch der Duce dachte gar nicht daran, die Brennergrenze nach Süden verschieben zu lassen und ließ sich nur zu einem fragwürdigen „Kompromiss“ erweichen – eben jener „Option“.
Und die war brutal. Die Alternative des Jahres 1939 lautete: entweder beim Deutschtum bleiben und auswandern – oder weiter in der Heimat leben und der Unterdrückung der eigenen Sprache und Kultur ausgesetzt zu sein. 85 Prozent hatten sich damals für die Umsiedlung entschieden, doch aufgrund des beginnenden Krieges verließen nur 
75 000 Menschen den Süden Tirols.

EINE VON 22 SIEDLUNGEN.
Aber auch die mussten untergebracht werden: „Man brauchte neue Siedlungen. 22 entstanden in Tirol, und eine davon in Reutte“, sagt Birgit Maier-Ihrenberger im Gespräch mit der RUNDSCHAU. Gebaut worden seien aber keine Notquartiere: „Es gab eine eigene Architektenkommission, die zwar einen Standardtyp festgelegt hat, der aber dann auf die jeweilige Gemeinde abgestimmt wurde.“ In der Siedlung in Reutte orientierte man sich also an der bestehenden Dachneigung, den Erkern – und an dem Haus, in dessen Erdgeschoss jetzt die Museumswohnung untergebracht ist, findet sich die Außentreppe des Gemeindeamtes. Die Kunsthistorikerin: „Es ist schon zu spüren, dass man den Leuten eine neue Heimat geben wollte.“ Deswegen laute der Titel des neuen Erinnerungsortes ja auch „Eine geplante Heimat“. Für dessen Verwirklichung hatten sich auch Museumsvereins-Obmann Ernst Hornstein, die Marktgemeinde Reutte mit Bürgermeister Luis Oberer (sie stellte die Wohnung zur Verfügung und unterstützte die notwendigen Arbeiten) engagiert eingesetzt. Auch von der Kulturabteilung des Landes gab es einen Zuschuss.
Das Wohngebiet sei damals sehr attraktiv gewesen: fast alle Häuser nur zweigeschossig, viel Grün, Nähe zum Ortszentrum. Für viele der neuen Mieter sei dadurch ein Traum in Erfüllung gegangen: „Viele hatten zum ersten Mal eine abgeschlossene Wohnung.“ Reutte sei übrigens aus zweierlei Gründen als Standort ausgewählt worden: „Das Metallwerk und die Textilwerke brauchten dringend Arbeitskräfte. Und es gab prinzipiell auch für Einheimische einen Mangel an Wohnraum.“ 
Und wer kam denn nun aus dem Land an Eisack, Etsch und Rienz ins Außerfern? „Vor allem Ärmere, die sich eine bessere Zukunft versprachen. Taglöhner, die von heute auf morgen gelebt haben. Ein Bauer verlässt halt seine Scholle weniger gern als einer, der nichts hat.“
1940 wurde in Reutte mit dem Bau begonnen, 1942 waren die ersten Wohnungen bezugsfertig: „Zuvor waren die Optanten in Gasthäusern untergebracht. Ihre Möbel, die sie aus der Heimat mitnehmen durften, wurden in Scheunen gelagert“, erzählt Birgit Maier-Ihrenberger. Die letzten Domizile wurden 1943 bezogen. Angesichts des Krieges war das eine erstaunlich kurze Bauzeit. Denn viele Handwerker waren im Krieg, Baumaterialien schwer zu bekommen. Möglich war es wohl, weil das Vorhaben als „Sondermaßnahme“ eingestuft war und trotz Krieges realisiert werden konnte.
Was außergewöhnlich ist: In Kriegszeiten war normalerweise Fassadenschmuck verpönt, in manchen Verordnungen gar verboten. Und dennoch konnte der Innsbrucker Maler Carl Heinrich Walther Kühn die Wände mit den für die damalige Zeit typischen Sujets bemalen: die Frau als Mutter, der kräftige Mann als Handwerker zum Beispiel. Aber es fanden auch Motive aus der Reuttener Geschichte Platz: „Ein großes Bild erinnert an die Rodfuhr-Tafeln im Museum im Grünen Haus“, erklärt die Kuratorin. Die Bilder sind immer noch hoch umstritten: Manche sehen in ihnen NS-Ideologie verherrlicht, für andere wiederum sind sie ein Zeitdokument, das nicht übermalt werden dürfe, weil man zu seiner eigenen Geschichte stehen müsse.

JEDE WOHNUNG MIT BAD.
Den hohen Stellenwert dieser Siedlungen sah man auch daran, dass sie durchaus in hohem Standard gebaut wurden: „Alle hatten ein Bad mit WC. Und damals war in Reutte noch ein Plumpsklo das Übliche.“ Auch nicht die Regel: der Elektroherd, der in jeder Wohnung neben der holzbefeuerten Kochstelle stand. Diese Einrichtung hat der Museumsverein nun mit Fundstücken aus diversen Dachböden nachempfunden. Kühlschrank gab es übrigens keinen: Die verderblichen Lebensmittel kamen in ein Kühlkästle unterm Fenster, durch ein vergittertes Loch in der Wand (heute noch sichtbar) strömte kalte Luft nach innen. 
Laut Birgit Maier-Ihrenberger war die Standardwohnung damals etwa 55 Quadratmeter groß: „Für große Familien hat man dann zwei zusammengelegt.“ 155 Wohnungen entstanden in 18 Häusern, gegenüber der heutigen Südtiroler Apotheke gab's einen Laden (dort ist heute die mobile Jugendarbeit angesiedelt). 500 Menschen zogen damals neu ein. Entgegen eines weit verbreiteten Vorurteils übrigens nicht nur Südtiroler, die gegenüber den Einheimischen „bevorzugt“ worden seien: „260 waren keine Umsiedler, sondern Kriegsversehrte, Fliegergeschädigte und Einheimische, die ihre Wohnung getauscht hatten.“ Und in jedem der 18 Häuser wurde auch ein Nazi-Blockwart untergebracht, der schaute, dass niemand der Ideologie zuwiderhandelte.
Trotz des für damalige Zeit hohen Standards war das Image der Südtiroler Siedlung schon in den ersten Jahren nicht das beste: Der Neid griff in Reutte um sich, die Bewohner wurden auch als „Tschinggeler“, „Walsche“ oder „Spaghettifresser“ tituliert, obwohl ja Tiroler Blut in ihren Adern floss. Dass der Erinnerungsort auch dies nicht ausblendet, ist dem Museumsverein hoch anzurechnen.
Wie die Musterwohnung nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann, steht wegen Corona noch in den Sternen. Auf jeden Fall im Rahmen von Marktführungen. Und Birgit Maier-Ihrenberger möchte auch mit den Schulen im Geschichtsunterricht zusammenarbeiten: „Vor Ort kann man diese Zeit doch viel besser vermitteln als nur im Klassenzimmer.“
 

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