Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Ein „evangelischer Leuchtturm“

Am Samstag geht Pfarrer Mathias Stieger in den Ruhestand

Er selbst bezeichnet sich gern als „Zaunpfarrer“, andere wiederum sehen in ihm einen „evangelischen Leuchturm“: Beides zeigt, wie gern Mathias Stieger Kontakt zu den Menschen im Außerfern pflegt und ein ebenso begeisterter wie fröhlicher Zeuge seines Glaubens ist. Am Samstag, 10. September, wird der Seelsorger der evangelischen Pfarrgemeinde Reutte mit einem Fest offiziell in den Ruhestand verabschiedet.
5. September 2022 | von Jürgen Gerrmann
Ein „evangelischer Leuchtturm“
30 Jahre waren Mathias und Anne Stieger das Pfarrersehepaar der Evangelischen Pfarrgemeinde Reutte. Am Samstag werden die beiden in einem Gottesdienst und anschließendem Fest verabschiedet. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Eigentlich war sein Dienst schon vor rund zwei Jahren zu Ende gegangen, aber dann machte Corona mit seinen Lockdowns immer wieder einen Strich durch die Festvorbereitungen. Und da sich auf die Ausschreibung seiner Nachfolge aus den Reihen der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in Österreich niemand meldete, fungierte Mathias Stieger so lange als „Administrator“ –  also gewissermaßen sein eigener Stellvertreter. Das fiel ihm nicht schwer, denn er ist mit Leib und Seele Pfarrer mit all dem, was dazugehört: Gottesdienste halten, Kranken- und Geburtstagsbesuche machen, sich im Religionsunterricht (gemeinsam mit seiner Frau Anne) um Kinder und Jugendliche kümmern, ökumenische Kontakte pflegen, sich Menschen, die Trost und Zuspruch brauchen, annehmen und so weiter und so fort. Und natürlich ein Schwätzle mit den Leuten halten, die am Pfarrhaus in der Albert Schweitzer-Straße vorübergingen oder  die er beim Spaziergang oder Radeln durch Reutte und das restliche Außerfern traf.

SCHWERER ABSCHIED AUS RUMÄNIEN.
Seit fast 30 Jahren ist es nun so: An einem Augustmorgen 1993 kam er mit seiner Familie um fünf Uhr in der Früh nach langer Fahrt im Außerfern an. Im Hotel Maximilian wurde gefrühstückt, und dann setzte man sich gleich mit dem Zollamt in Verbindung, um die Siebensachen im Transporter kontrollieren zu lassen. Denn an der Wiege in Großau in Siebenbürgen war es ihm nicht gesungen, dass er einst Pfarrer in Tirol sein sollte. In seiner Heimat war zwar vier Jahre zuvor das Diktatoren-Ehepaar Ceaucescu gestürzt worden, aber Rumänien zählte noch nicht zur EU (deswegen die Zollformalitäten).
Vermutlich wären die Stiegers auch dort geblieben, obwohl der damalige österreichische Bischof Dr. Dieter Knall bei einer Konferenz in Riga zu ihm gesagt hatte: „Wir brauchen Sie!“ Doch dann wurde bei seiner damals sechsjährigen Tochter Wiltrud (heute eine renommierte Schauspielerin) ein schwerer Sehfehler entdeckt, der zuhause nicht therapiert werden konnte: „Als meine Frau mit ihr in Düsseldorf beim Arzt war, habe ich den Telefonhörer in die Hand genommen und mich doch in Wien gemeldet.“ Der Bischof sagte sofort zu, und die Stiegers durften auch ihre Wünsche artikulieren: „Gute Schulen sollte es an unserem neuen Dienstort geben, auch eine sehr gute Musikschule. Und weil wir Verwandte dort hatten, war auch die Nähe zu Bayern ein Kriterium.“ Passte also alles haargenau auf Reutte, von wo Pfarrer Andreas Domby (ebenfalls ein Siebenbürger) kurz zuvor nach Klagenfurt gegangen war.
Dennoch fiel der Abschied aus Agnetheln in der Nähe von Hermannstadt alles andere als leicht: „Wir haben eine Kurzandacht mit dem orthodoxen Pfarrer gehalten, die Glocken haben geläutet, ich habe geweint.“ Mut machte die Tageslosung, die seine Frau und er bis heute nicht vergessen haben: „Siehe, ich sende einen Engel vor Dir her, der Dich behüte auf dem Wege und bringe Dich an den Ort, den ich Dir bereitet habe.“
„Für mich war es in diesem Moment schlimm“, macht der Pfarrer aus seinen Gefühlen keinen Hehl: „Ich war im Oberkirchenrat, hatte gute Mitarbeiter.“ Seine Tochter Wiltrud erlebte diese Gewissensqual um „Bleiben oder Gehen“ heuer gewissermaßen nochmal mit: Bei den Tiroler Volksschauspielen in Telfs spielte sie in „Ich bleibe hier“ eine Frau aus Graun, die beim Bau des Reschensees just um dies ringt. Heute können die Stiegers Ja dazu sagen, „auch wenn die Trauer nach Siebenbürgen immer wieder kommt und geht“. Denn sie waren nicht die Einzigen, die gingen: „Der Aderlass war sehr groß. Schon im ersten Jahr nach der Revolution haben 1300 Menschen unsere Stadt verlassen. Von 2000 Evangelischen sind gerade mal 100 geblieben.“

MUT DURCH ÖKUMENISCHE FREUNDSCHAFT.
Die erste Zeit im Außerfern war nicht leicht – auch weil sich die eigene Gemeinde nicht nur als der pure Himmel auf Erden erwies. Aber nach den Anlaufschwierigkeiten haben man „Heimat mit Menschen gefunden, die sich unter das Wort Gottes stellen“. Und da verweist der Pfarrer nicht zuletzt auf die „große ökumenische Freundlichkeit“, die ihm vom ersten Moment an entgegengebracht worden sei. Ganz wesentlich vom damaligen Dekan Ernst Pohler und den Pfarrern Donatus Wagner und Herbert Kassebacher. „Ich hatte das Glück, immer gute ökumenische Freunde gehabt zu haben, die mich immer als ebenbürtig betrachtet und uns nie spüren haben lassen, dass wir Evangelischen eine solch kleine Minderheit sind. Dass wir so viel mitein-ander gemacht haben, hat mir sehr viel Mut gegeben.“ Und das kleine Häufchen wird auch immer kleiner. Denn auch die Pfarrgemeinde wird vor Austritten nicht verschont: „Für uns war das neu. In Siebenbürgen ist niemand ausgetreten. Und ich denke, wir als Christen sollten doch Zeugnis ablegen und Bekenner sein. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass die Leute gehen – aber was soll man machen?!“

„GEHILFEN DER FREUDE“.
Es gebe aber auch Grund zur Freude. Als eine seiner Stärken betrachtet er es „ein Gefühl für die Leute zu haben, die für die Gemeinde was machen“. So habe er der jetzigen Kuratorin Brigitte Moritz auf den Kopf zugesagt: „Sie wären eine guten Lektorin!“ (also Laienpredigerin). Und auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Gremien (also Presbyterium als kleinerer und Gemeindevertretung als größerer Zirkel) stärke in ihm die Überzeugung, „dass unsere Gemeinde zusammengewachsen ist“. Aus seiner Sicht dürfe es in der Kirche „kein oben und unten geben“, er orientiere sich da am Korintherbrief: „Wir sind Gehilfen Eurer Freude!“ Die im Glaubensbekenntnis erwähnte „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe aus all denen, die sich unter das Wort Gottes stellen. Sicher, es gebe verschiedene Verantwortungen in der Kirche, „aber ich wehre mich dagegen, von oben und unten zu sprechen“. Evangelisch zu sein, bedeute für ihn, „gemeinsam zu leiten, unbequem zu sein, auch den eigenen Leitenden die Meinung zu sagen, die Verantwortungsträger auch zur Verantwortung zu ziehen, egal ob in der Kirche, der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik“.
Seit geraumer Zeit hat der Krebs Mathias Stieger ereilt. Daraus macht er auch kein Geheimnis: „Das hilft einem aber auch zu erkennen, dass das Leben ein Geschenk ist. Durch die Chemotherapie lerne ich etwa Neues, wie Menschen mit Kranken umgehen. So viel Güte und Achtsamkeit von Schwestern und Ärzten – dafür bin ich unendlich dankbar. Wichtig ist auch, dass die Familie hinter Dir steht bei allem, was auf Dich zukommt. Dieses Geschenk ist mit Gnade verbunden. Sicher, ich habe auch Zweifel und weine auch manchmal. Aber eines Tages wird Christus vor mir und vor uns allen stehen – und dann passt ja alles.“

INFO.
Der Abschiedsgottesdienst für Mathias Stieger findet am Samstag, dem 10. September, um 10 Uhr in der evangelischen Dreieinigkeitskirche statt. Wer ihm dabei (und beim anschließenden Fest) die Ehre erweisen möchte, ist herzlich willkommen – und eine Anmeldung unter Telefon (0676) 3165886 erwünscht.

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