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Gehilfe der Freude

Die evangelische Gemeinde muss bald von Pfarrer Mathias Stieger Abschied nehmen

Für die evangelischen Christen im Außerfern geht eine Aera zu Ende: Nur noch eine Handvoll Gottesdienste wird Mathias Stieger als amtierender Pfarrer leiten. Dann geht der weit über die Konfessionsgrenzen geschätzte Seelsorger in den Ruhestand. Für beide Seiten ist das ein gravierender Einschnitt.
16. Juni 2020 | von von Jürgen Gerrmann
Gehilfe der Freude
27 Jahre war Mathias Stieger (hier mit seinem mit „sehr gut“ bewerteten Diplom) evangelischer Pfarrer im Außerfern. Bald geht er in den wohlverdienten Ruhestand. RS-Foto: Gerrmann
von Jürgen Gerrmann

„Evangelisch“ – das ist für viele Österreicher (und nicht zuletzt Tiroler) auch heute noch eher ein Fremdwort. Was bedeutet das denn für den in Rumänien geborenen Theologen eigentlich? „Christliche Freiheit und zugleich im Dienst der Anderen zu stehen“, sagt er im Gespräch mit der RUNDSCHAU und nimmt dabei den Haupt-Gedanken aus Martin Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ auf: „Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Und zugleich: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jederman untertan.“
Freiheit und Christentum – dieses Thema wurde dem kleinen Mathias schon an der Wiege gesungen. Denn die Welt, die er erblickte, war kommunistisch, also glaubensfeindlich geprägt. Auch Rumäniens Machthaber huldigten damals Karl Marx’ Credo: „Religion ist Opium für das Volk.“ In seiner Kindheit spürte der Arbeiter- und Bauernsohn („Wir waren keine Patrizier, meine Vorfahren Zimmerer wie Jesu Vater.“) freilich diesen Zwiespalt nicht: „Da fiel es mir sehr leicht, meinen Glauben zu leben, das gehörte einfach dazu. Und der Kommunismus hatte ja auch einen Rahmen offen gelassen – in der Verfassung waren die Freiheit des Glaubens und seiner Ausübung verankert. Und das haben die Machthaber auch respektiert.“ Allerdings nur, solange man nicht im Staatsdienst war. Womit sich für Mathias Stieger einiges änderte, als er Lehrer in seiner Heimatgemeinde Großau (das auf Rumänisch übrigens Cristian heißt) wurde: „Da war der Kirchgang für alle verboten.“ Nicht nur für die Protestanten, sondern auch für die Römisch-Katholischen und die Rumänisch-Orthodoxen. Aber dennoch wollte er nicht darauf verzichten, seinen Glauben zu praktizieren – und fuhr jeden Sonntag in die nächste Stadt nach Sächsisch-Reen, wo man ihn nicht kannte.

BIBELVON A BIS Z. Gleichzeitig beschäftigte er sich als Junglehrer intensiv mit der Bibel – und las sie Kapitel für Kapitel, von A bis Z, vom Anfang bis zum Ende: „Obwohl ich das heute pädagogisch für falsch halte.“ Aber dennoch: „Das hat mich geärgert, gefreut, getröstet und mir doch auch Richtlinien für ein Lehrerdasein im Kommunismus gegeben. Ich wollte aber auch einfach wissen, was ich eigentlich genau im Konfirmandenunterricht gelernt habe.“ Und es löste auch einen ganz entscheidenden Impuls aus: „Wenn ich ein Evangelischer des Augsburger Bekenntnisses bleiben wollte, gab es keinen anderen Weg, als Theologie zu studieren.“ Was er mit Erfolg tat. „Sehr gut“, wurde ihm in seinem Diplom über die theologische Lizenzprüfung der Fakultät in Hermannstadt attestiert (übrigens anders als in allen anderen kommunistischen Staaten nicht nur in der Landes-, sondern auch in der deutschen Muttersprache) – und „sehr gut“ werden auch die evangelischen Christen im Außerfern sagen, wenn sie auf seine nun 27-jährige Praxisprüfung hierzulande schauen.

EIN SCHWERER ABSCHIED. Zehn Jahre als Pfarrer (je zur Hälfte in Bistritz und Agnetheln) hatte er schon zuvor absolviert: „Der Abschied fiel mir sehr schwer. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Evangelische Kirche in Rumänien einmal verlasse. Aber aus familiären Gründen ging es nicht anders.“ Und da habe er gehört, dass die Protestanten in Österreich Seelsorger suchten: „Und wenn ein Pfarrer hört, dass er gebraucht wird, dann flattert sein Herz.“ Mit flatterndem Herzen kam er dann auch in Reutte an. Aber das beruhigte sich nicht zuletzt durch die „sehr warmherzige Begrüßung“ durch den damaligen katholischen Dekan Ernst Pohler: „Der hat mir gleich einen Cognac angeboten.“
In den eigenen Reihen verlief die erste Zeit derweil nicht so einfach: Im Presbyterium (dem Leitungsgremium) musste er sich gleich zu Beginn intensiv „mit dem kapitalistischen Denken auseinandersetzen“. Im Grunde kein Wunder: „Fast alle Presbyter hatten Führungspositionen in der Außerferner Wirtschaft inne.“ Zudem habe ihm in der Diaspora auch „die starke Säule der Volkskirche“ gefehlt, „wo die Seele das Volk ist und nicht ein übermächtiges Presbyterium“. Wobei der Pfarrer konzediert: „Vielleicht habe ich in dieser Phase auch überreagiert.“ Es sei eben anders, in einer großen gewachsenen Gemeinde zu wirken: „In einer Minderheitensituation sieht das schon anders aus.“ Neben den Problemen, die alle Kirchen hätten, komme noch hinzu: Man kenne sich untereinander nicht, komme aus unterschiedlichen Traditionen, sei weit verstreut (von Biberwier bis Steeg), habe einen großen Anteil an konfessionsverbindenden Ehen. In diesen 27 Jahren habe er aber andererseits auch stets sehr gute ökumenische Partner gehabt – „sowohl vor Ort in Reutte als auch in Innsbruck auf Landesebene, wo seit Kurzem auch die neuapos-tolische Kirche dazugehört“. Mathias Stieger dazu: „Dieses brüderliche, geschwisterliche Miteinander macht das Leben in der Minderheit leichter – auch in der Schule, wo ich immer sehr gern gearbeitet habe.“ Zwar bereiteten ihm der „Zeitgeist der Beliebigkeit“ und das „Zusammenbasteln einer eigenen Religion (nicht zuletzt unter Einflüssen aus Asien und dem Buddhismus)“, die „auch an unserer Kirche nagen“, durchaus Sorge: „Aber ich habe keine Angst für die Zukunft. Wir haben ein gutes Presbyterium. Angst ist nie das Gute. Das Gute ist die Hoffnung, die Freude am Miteinander im Geiste Gottes.“

DIE KRAFTQUELLEN. Was hat ihm in all den Jahren denn die meiste Kraft gegeben? „Meine Familie. Mein ständiger Begleiter: die Heilige Schrift. Die Gremien unserer Gemeinde inklusive ihrer konstruktiven Kritik, die niemals niedergebügelt hat. Unsere Gottesdienste. Unsere verschiedenen Kreise von den Gemeindeabenden bis zum Literaturzirkel. Und die Gespräche mit den Menschen bei der Vorbereitung von Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen.“ Was ist sein Lieblings-Kirchenlied? Da kann er sich nicht so recht entscheiden: „Auf jeden Fall eins von Paul Gerhardt – ,Ich singe Dir mit Herz und Mund’ oder ,Geh aus, mein Herz, und suche Freud!’ – Luther, Paul Gerhardt und Johann Sebastian Bach sind meine Lebensbegleiter, von denen lasse ich mir viel sagen.“ Und sein Lieblings-Bibelwort? Eins, das ihm sein Freund nach dem Abschied vom Studium mit auf den Weg gegeben hat: „Nicht, dass wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr steht im Glauben.“
Gehilfe der Freude zu sein – das würden wohl fast alle Schäflein, die nun vor dem Abschied ihres Hirten aus seinem offiziellen Amt stehen, ihm aus Herzensgrund bescheinigen. Und ganz wird er ja nicht gehen: Mitglied der Gemeinde bleibt er auch nach seinem Umzug in sein privates Domizil in der Reuttener Oberlüß.

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