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Grenzüberschreitende Pfarrstelle

Die Evangelischen Gemeinden im Außerfern und Allgäu betreten Neuland

Die Evangelische Pfarrgemeinde Reutte schreibt gemeinsam mit ihren Partnern im Allgäu Kirchengeschichte: Die erste grenzüberschreitende Pfarrstelle ganz Österreichs wird im Außerfern eingerichtet. Wenn alles gut läuft, steht Ende Oktober fest, wer dann ins Pfarrhaus an der Albert-Schweitzer-Straße in Reutte einzieht.
11. Juli 2022 | von Von Jürgen Gerrmann
Grenzüberschreitende Pfarrstelle
Freuen sich über und auf das Pilotprojekt einer grenzüberschreitenden evangelischen Pfarrstelle: Kemptens Dekan Jörg Dittmar (rechts) und Olivier Dantine, seines Zeichens Superintendent für Salzburg und Tirol. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann

Bereits vor zwei Jahren war der langjährige und verdiente Seelsorger der Reuttener Gemeinde, Mathias Stieger, „eigentlich“ in den Ruhestand getreten. Seither fungiert er quasi als sein eigener Stellvertreter (offiziell: Administrator), da sich auf die Ausschreibung innerhalb der Evangelischen Kirche in Österreich niemand gemeldet hatte. Dieses Phänomen führt Olivier Dantine, der Superintendent für Salzburg und Tirol der Evangelischen Kirche, auf die „allgemein angespannte Personalsituation“ in den eigenen Reihen zurück: „Wir haben dasselbe Problem wie andere Berufsgruppen auch. Wir können nur schwer Kandidaten für Stellen auf dem Land gewinnen. Da geht es uns nicht anders als etwa den Ärzten.“ Nach Gesprächen mit dem Presbyterium (also dem Laien-Leitungsgremium) der Reuttener Gemeinde nahm Dantine dann Kontakt mit seinem Amtskollegen Jörg Dittmar, dem evangelischen Dekan von Kempten, auf.  Und stieß dabei durchaus auf Interesse.

SCHNELLE EINIGKEIT. „Wir haben uns an die Sache rangetastet und erst einmal abgeklärt, ob eine geteilte Pfarrstelle überhaupt möglich ist“, erzählt der Bayer im Gespräch mit der RUNDSCHAU. Als feststand, dass keine unüberwindlichen Hürden vor diesem Projekt standen, traf man sich vor rund einem Jahr zu einer Besichtigung der Lokalitäten in Reutte. Und war sich danach klar: Sollte es mit der Stelle klappen, sollte der Wohnsitz der neuen Pfarrerin oder des neuen Pfarrers dort an der Albert-Schweitzer-Straße sein. „Wir waren uns schnell einig – und haben beide gesagt: ,Das machen wir!‘“, blickt der Dekan auf diese wegweisende erste Besprechung vor Ort zurück: „Aber wir mussten erst noch warten, bis unser beider Kirchenleitungen auch verstanden hatten, was wir wollten.“ Eine wirkliche – finanzielle und organisatorische – Teilung einer Stelle über eine Landesgrenze hinweg, das sei wirklich für beide Seiten ein absolutes Novum gewesen: „Klar, dass das nicht gerade in Lichtgeschwindigkeit abgewickelt werden konnte, sondern gedauert hat. Aber jetzt haben wir’s ja.“

WAHLGREMIUM TAGTE SCHON. Aus dem Traum wurde also erst ein Wunsch und dann ein gemeinsames Ziel. Und der erste Schritt dorthin wurde am Donnerstag im Gemeindesaal der Dreieinigkeitskirche gesetzt: Das paritätisch besetzte Wahlgremium tagte zum ersten Mal. Ihm gehören neben dem Allgäuer Dekan und dem fürs Außerfern zuständigen Superintendenten noch jeweils drei Personen an. Sie beschlossen nun gemeinsam die Ausschreibung für das Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (denn dort ist die Stelle offiziell angesiedelt). Wobei der Wunsch der Außerferner, jemand mit großer Offenheit zu finden, sofort auf offene Ohren stieß: „Wir sind eine einladende Gemeinde – für Christen, Nicht-Christen, Nicht-mehr-Christen und Wieder-Christen-Werdende“, heißt es da zum Beispiel. Theoretisch möglich ist übrigens auch, dass sich ein Theologenpaar die Stelle teilt.
Und wie geht es jetzt weiter? Zunächst muss die Ausschreibung erst einmal veröffentlicht werden. Und dann benötigen Interessierte natürlich auch Zeit, sich mit einer bisher buchstäblich noch nie dagewesenen Stelle auch gedanklich zu befassen. Aber Ende Oktober kann dann das Wahlgremium zur Tat schreiten. Sofern Bewerbungen vorliegen. Aber davon gehen im Moment eigentlich alle aus, denn auch auf bayerischer Seite hält man die Stelle in Reutte für überaus attraktiv. Wann sie dann tatsächlich besetzt ist, hängt auch davon ab, wie schnell die neue Pfarrerin oder der neue Pfarrer ihre bisherigen Stellen verlassen können. Aber es ist keineswegs ausgeschlossen, dass man Weihnachten schon gemeinsam feiert.

ZUVERSICHTLICHER DEKAN. Was erhofft sich denn nun die bayerische Seite von dieser neuen Konstellation? Jörg Dittmar: „Die sechs Kolleginnen und Kollegen, die in Füssen und Pfronten auch in der Klinik- und Tourismusseelsorge tätig sind, bekommen Verstärkung. Und das hat erstens was Inspirierendes und zweitens lassen sich da auch Urlaubs- und Krankheitsvertretungen besser organisieren. Auch ein Pfarrer muss einmal durchschnaufen.“ Der Kemptener Dekan sieht übrigens hier wie dort „die immer stärker werdende Notwendigkeit, unseren Glauben neu zu erklären“. Denn man erlebe wahrlich nicht nur Rückenwind: „Säkularisierung, Wohlstand, Individualisierung machen das kirchliche Leben schwierig. Aber auf der anderen Seite wird die Kirche immer dringender gebraucht – als Heimat, als Wertehorizont, als Ort, wo man Kraft und Mut schöpfen kann.“ Er sei überzeugt, „dass wir für diese Aufgabe nun gemeinsam gut aufgestellt sind und einen tollen Rahmen bieten können“. Dittmars Bekenntnis: „Ich bin total neugierig, von Euch in Österreich zu lernen. Da gibt es sicher viele gute Dinge, die auch was für uns sind. Und ich bringe da offene Augen, Ohren und Herz mit.“ Auf der anderen Seite könnten aber auch ein Allgäuer „ein paar schöne Sachen“ einbringen: Zum Beispiel habe man vor kurzem 28 Menschen der verschiedensten Altersgruppen in der Natur getauft. Das Angebot sei nicht zuletzt von Alleinerziehenden und Patchwork-Familien begeistert angenommen worden – nicht zuletzt, weil ihnen die Kirche den organisatorischen Aufwand und auch die Ausrichtung des Festes abgenommen habe. Nun aber hoffe er erstmal, dass die Besetzung der Reuttener Stelle zügig vonstatten geht: „Eine Gemeinde braucht eine Hirtin oder einen Hirten, die die Menschen zusammenführen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich so jemand bewirbt. Darauf setze ich und halte es durchaus für wahrscheinlich.“

STOLZER SUPERINTENDENT. „Ich bin so was von happy – absolut begeistert“, strahlte denn auch Superintendent Olivier Dantine übers ganze Gesicht. Und mit großer Freude erfülle es ihn, dass sein Allgäuer Kollege diese Begeisterung teile und man in dieses Pilotprojekt einzusteigen vermöge: „Kooperationen gibt es ja schon ein paar, aber dass eine Stelle echt geteilt wird, ist ganz neu – und macht mich schon stolz.“ Dieser neue Ansatz biete erstens die Chance, die Reuttener Pfarrstelle gut zu besetzen, und zweitens die Möglichkeit einer guten grenzüberschreitenden Kooperation zwischen Pfarrgemeinden. Wie hat eigentlich die Kirchenleitung in Wien auf das erste zarten Anklopfen in dieser Richtung reagiert? „Von Anfang an mit großer Offenheit – und großer Freiheit, das zu gestalten. Das war schon ein Ausdruck großen Vertrauens. Ich war wirklich positiv überrascht, wie schnell man dort auf den Gedanken eingestiegen ist. Da haben wir von einen Nerv getroffen, denn der Funke hat rasend schnell gezündet.“ Und er hoffe, dass der auch in der Gemeinde in Reutte ein neues Feuer der Begeisterung entfache: „Ich bin da sehr optmistisch.“ „Voller Hoffnung und Zuversicht“ ist auch Kuratorin Brigitte Moritz: „Jörg Dittmar steckt an“, sagt die Laienvorsitzende der Reuttener Gemeinde. Sie empfindet „eine Gemeinde ohne Pfarrer als hilfloses Wesen“. Denn: „Eine Gemeinschaft braucht eine Führungsperson. Gerade wir, die wir so weit zerstreut und zum Teil auch einander fremd sind.“ Das sei jetzt zum Greifen nah: „Ich habe immer daran geglaubt, dass das klappen kann. Es ist eine tolle zeitgemäße Idee, eine grenzüberschreitende Pfarrstelle mal auszuprobieren. Europa muss seine Grenzen verlieren – auch das zeigen wir damit.“

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