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„Hauptsache nicht zuhause!“

12. Feber 2019 | von Sabine Schretter
„Hauptsache nicht zuhause!“
Ruth Vogler und Angela Woldrich (v.l.) vom Verein „ViaNova“ setzen sich für inklusives Wohnen ein. RS-Foto: Schretter

Der Elternverein „ViaNova“ ermöglicht inklusives Wohnen im Bezirk Reutte


Artikel 19 der UN-Behindertenkonvention formuliert: „Menschen mit Behinderung haben das Recht, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben. Es ist sicherzustellen, dass sie nicht in besonderen Wohnformen leben müssen.“ Das heißt mit anderen Worten, dass die Entscheidung über die Wohnform selbstbestimmt getroffen wird. „ViaNova“ hilft Menschen mit Beeinträchtigung bzw. Unterstützungsbedarf bei diesem wichtigen Schritt.

In eine eigene Wohnung zu ziehen, zählt wohl zu den aufregendsten Meilensteinen auf einem Lebensweg. Ist es doch ein Schritt, der gut überlegt sein mag und einiges an Aufwand, Organisation und Kosten mit sich bringt. Diese eigenen vier Wände bedeuten, Verantwortung zu übernehmen, die Selbstständigkeit unter Beweis zu stellen.
Die Wohnsituation wirkt sich unmittelbar auf das Wohlbefinden eines Menschen aus – ganz egal, ob mit oder ohne Beeinträchtigung bzw. Unterstützungsbedarf.
Inklusiv.

Der Elternverein „ViaNova“ ist für den Bezirk Reutte ebenfalls einen großen Schritt weitergegangen und ermöglicht seinen Klienten inklusives Wohnen.
Im Gespräch mit der RUNDSCHAU erklärte „ViaNova“-Geschäftsführerin Angela Woldrich: „Erste Überlegungen in diese Richtung haben wir 2017 angestellt. Unser Ziel ist es, die Klienten in ein möglichst selbstständiges Leben zu begleiten und ihnen unter anderem auch zu eigenständigem Wohnen zu verhelfen.“
Klienten können und sollen an der Gesellschaft partizipieren, Barrieren zwischen Menschen abgebaut werden.
„Wir entwickeln personenspezifische Konzepte, planen offen und flexibel für konkrete Menschen. Es wird individuell auf jeden Klienten geschaut“, so Angela Woldrich. Ruth Vogler, pädagogische Leiterin bei „ViaNova“ ergänzt: „Die zentrale Voraussetzung ist, dass die Klienten wollen. Für einen Klienten, der inklusiv wohnen wird, bleibt sein Betreuerteam erhalten. Diese Sicherheit ist wichtig. Nur so wird der große Schritt ins eigenständige Wohnen bewältigbar.“
Inklusives Wohnen umfasst viele Bevölkerungsgruppen. „Das heißt, dass Menschen mit Behinderung mit älteren Menschen, jungen Familien, alleinerziehenden Eltern, Menschen mit Migrationshintergrund, jungen Menschen wohnen. Die Wohnungen sollten zentral liegen, damit die täglichen Erledigungen – Behördengänge, Einkäufe, Arztbesuche – selbstständig und unkompliziert erledigt werden können.“
Drei Wohnungen.

Für drei Klienten wurden individuell zugeschnittene Konzepte entwickelt. „Sie alle wohn(t)en zuhause, brauchen eigentlich 24 Stunden Unterstützung. Wir haben dann begonnen, in einer Ferienwohnung ,Probe zu wohnen’. Das heißt, Klienten und Betreuer verbrachten immer wieder einmal ein Wochenende in dieser Wohnung – wir trainierten sozusagen während der Freizeit. In einem nächsten Schritt verbrachten Klienten und Betreuer jeweils die ersten beiden Arbeitstage, also eine halbe Woche, in der Wohnung. Damit hielt der Alltag Einzug“, führt die engagierte „ViaNova“-Geschäftsleiterin aus.
Mit Unterstützung durch die Marktgemeinde Reutte, die ein sehr wichtiger Partner des Vereins ist, konnte dann eine Trainingswohnung angemietet werden. Diese Wohnung wurde barrierefrei umgebaut. Hier ist Probewohnen in kleinen Schritten für Klienten und Betreuer möglich. In dieser Trainingswohnung fällt für den Klienten keine Miete an.
Anders in der wirklich eigenen Wohnung. „ViaNova“ hat dafür zwei Wohnungen in der Südtiroler Siedlung in Reutte angemietet und tritt als Hauptmieter auf. Die Klienten, die dort wohnen, zahlen dafür auch Miete.
„Wir richten in den Wohnungen die Assistentenzimmer ein, statten Bad und Küche aus. Alles andere macht der Klient selbst nach seinen Vorstellungen. Der Assistent passt auf und greift – wenn erforderlich – ein. Aber auch hier gilt: Hilfe zur Selbstständigkeit. Einer unserer Klienten hat nun ganz konkret den Wunsch geäußert, endlich allein wohnen zu wollen. Er ist am 4. Februar in seine erste eigene Wohnung eingezogen,“ freut sich Angela Woldrich.
Abnabelung.

Mit dieser Entscheidung beginnt ein Entwicklungsprozess für Klienten, deren Eltern bzw. Familien und die Betreuer. Für die meisten Eltern ist es nicht einfach, die Kinder in die eigenen vier Wände ziehen zu lassen. Umso mehr trifft dies zu, wenn ein Kind mit Behinderung auszieht. Dieses Loslassen fällt schwer, dennoch ist ein Auszug aus dem elterlichen Umfeld eine wertvolle Erfahrung, ein erster Schritt in ein selbstständiges Leben – auch wenn Hilfestellungen notwendig sind.
Für die Klienten ist die Ablöse von den Eltern ein wichtiger Prozess, der schrittweise und individuell verläuft. Oft erfahren gewohnte Beziehungen eine Veränderung, zeigen neue Facetten.
Ähnliches können Angela Woldrich und Ruth Vogler über ihren Klienten berichten. „Er wohnte bis jetzt bei seinem alleinerziehenden Vater und konnte sich nur schwer vorstellen, dies zu ändern. Mit ihm haben wir das in kleinen Dosen probiert. Die Zeiten in der eigenen Wohnung wurden ausgedehnt. Sein Vater kam dann auch zu ihm in die neue Wohnung zum Essen, mit seinen Schwestern telefoniert er regelmäßig. So wurde für unseren Klienten klar, dass die Familie auch trotz des Auszugs von zuhause für ihn da ist, sie ihn nicht vergessen. Dieses Bewusstsein ist enorm wichtig. Eltern übernehmen in der neuen Lebenswelt ihrer Kinder auch neue Aufgaben.“
Wichtig ist auch, dass das Betreuerteam für den Klienten erhalten bleibt. Diese Strukturen werden nicht unterbrochen. Andererseits durchlaufen auch die Betreuer einen Lernprozess. Auch sie entwickeln sich mit, lernen zu erkennen, was sie ihrem Klienten zutrauen können.
Der Bedarf an inklusiven Wohnprojekten ist absolut gegeben und wird zunehmen. „Wir haben viele Klienten, deren Eltern langsam in ein Alter kommen, in dem sie nicht mehr alles selbst bewältigen können. Wenn Eltern aber wissen, dass ihre Kinder wohnen können und gut betreut und aufgehoben sind, nimmt das viel Druck und Sorgen von ihnen,“ blickt Angela Woldrich in die Zukunft.
Unterstützung

Die personenzentrierte Unterstützung ist bei „ViaNova“ breit aufgestellt. Klienten, die inklusiv wohnen, erhalten Hilfe bei Einrichtung und Instandhaltung ihrer Wohnung, werden bei Einkäufen, beim Kochen und der Haushaltsführung sowie bei finanziellen Angelegenheiten unterstützt. Betreuer begleiten ihre Klienten zu Arztbesuchen, kümmern sich im Krankheitsfall um sie. Sie sind bei der Arbeitssuche, am Arbeitsplatz und bei Problemen an ihrer Seite, planen und organisieren die Freizeit.
„Betreuer arbeiten nach dem Grundprinzip des ,in die Gesellschaft Gehens’,“ erklärt Ruth Vogler. „Sie machen mit den Klienten, was alle machen – gehen schwimmen, ins Fitnessstudio, ins Kaffeehaus, zum Einkaufen. Dieses Prinzip führt Stück für Stück in die Selbstständigkeit.“
Verantwortung und Sicherheit sind zentral. „Unsere Mitarbeiter tragen dafür Sorge, dass sich ihre Klienten der Unterstützung sicher sein können. Selbstständiges Wohnen kann nur funktionieren, wenn diese Sicherheit geboten ist,“ so Angela Woldrich.
Mitarbeiter gesucht.

„ViaNova“ ermöglicht mit seinen individuellen Angeboten neue Wege der Integration. Damit ist ein steigender Personalaufwand verbunden. Aktuell sucht „ViaNova“ Mitarbeiter, die keine spezifische Fachausbildung besitzen müssen. Es handelt sich dabei um keine Freiwilligentätigkeit, „ViaNova“-Mitarbeiter werden angestellt – meist in Teilzeit, weil sich die Arbeitszeiten danach richten, welche Klienten die Assistenz brauchen. Voraussetzung für die Arbeit mit Menschen mit Unterstützungsbedarf sind neben hoher sozialer Kompetenz, Geduld und Flexibilität, Offenheit und Lebenserfahrung. Betreuer dürfen keine Berührungsängste haben.
Kontakt.

Interessierte können sich an Verein „ViaNova“ Mühlerstraße 12, 6600 Reutte, Tel. +43 (0) 5672 62486, E-Mail: office@vianov-austria.at wenden. Die Büroöffnungszeiten sind Montag bis Freitag, 9 bis 12 Uhr, oder nach telefonischer Vereinbarung.
Was ist „ViaNova“?

Der Elternverein „ViaNova“ hat sich zur Aufgabe gestellt, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern und nicht Menschen mit Unterstützungsbedarf zu verändern. Die Zielgruppe sind einerseits Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung, die auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben zeitweise oder dauerhaft Unterstützung benötigen. ViaNova richtet sich auch an Eltern, Familien und das soziale Umfeld von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung sowie an Betriebe und öffentliche Institutionen, um Anstellungen am Ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Personenzentrierte Angebote ermöglichen neue Wege der Integration.

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