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Ich habe mich nie für wichtig gehalten

Reuttes Altbürgermeister Siegfried Singer wird 90: Mein größtes Glück ist meine Frau

„Was, 90?! Dass ich so alt werde, hätte ich nie gedacht – aber, was soll ich machen?“: Der Schalk sitzt Reuttes Altbürgermeister und Ehrenbürger Siegfried („Siegi“) Singer auch nach neun Lebensjahrzehnten wie eh und je im Nacken. Ihn und wohl alle freut es, dass er seinen Ehrentag am Samstag auch so geistig fit genießen kann. Zwar wollen die Beine nicht mehr so recht: „Aber besser als andersrum. Es nutzt mir ja nix, wenn ich auf einen Gipfel steigen kann und dann nicht weiß, wo ich überhaupt bin“, sagt er im Gespräch mit der RUNDSCHAU.
30. Juni 2020 | von von Jürgen Gerrmann
Ich habe mich nie für wichtig gehalten
Dankbar für ein gesegnetes Leben: Reuttes Altbürgermeister Siegfried („Siegi“) Singer wird am Samstag 90. RS-Foto: Gerrmann
von Jürgen Gerrmann

Ein waschechter Reuttener zu sein – darauf ist Siegi Singer genauso stolz wie darauf, mit seinen Vor- und Nachfahren zu denen zu gehören, die das seit dem vergangenen Dezember von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannte Handwerk der Rauchfangkehrer bewahrt haben und weitertragen: Der Jubilar übte es in fünfter Generation aus, Sohn Lukas nun in der sechsten und Enkel Philipp gar in der siebten.
Auf sein langes und reiches Leben blickt er voller Dankbarkeit zurück: „Ich war nie gottverlassen, Doris, meine gute Frau, pflegt mich wunderbar, und auch das Ärzte-Ehepaar Dr. Ingrid und Reinhold Pröll hat mich immer wieder auf Vordermann gebracht.“
Auch sei ihm „ jede Menge Glück“ zur Seite gestanden. Zum Beispiel? „Als ich ungefähr 25 war, ist mir fast das Krankenhaus im Kreckelmoos abgebrannt, weil mir brennende Holzwolle auf das Schindeldach der Kapelle geflogen ist. Ich seh mich heute noch, wie ich damals die Dachrinne entlang geklettert bin und die brennenden Schindeln nach unten geworfen habe.“
Trotz allem: „Mein größtes Glück ist meine Frau“, betont er immer wieder. Und man spürt: Die Liebe, die einst zu der jungen Doris Schennach („vom Kaufhaus Schennach, also auch eine Ur-Reuttenerin“) entflammte, sie lebt auch heute noch.
Dass er für eineinhalb Jahrzehnte die Geschicke der Marktgemeinde Reutte leitete, kann nicht groß verwundern: „Politik hat mich immer interessiert.“ 1983 beriefen ihn die Wähler in das höchste Amt, das Reutte zu vergeben hat. Natürlich als Kandidat der Volkspartei: „Ich war immer doppelt schwarz – als Kaminkehrer und politisch.“ Nur einmal wurde es knapp: gegen seinen roten Kontrahenten (und Nachfolger) Helmut Wiesenegg. Sein Verhältnis zu ihm? „Koexistenz.“

STOLZ AUF DEN ZWIEBELTURM. Auf die Jahre 1983 bis 1998 blickt Siegi Singer noch heute mit leuchtenden Augen zurück: „Das war meine schönste Zeit“, strahlt er. Warum das? „Man konnte sofort einen Wunsch erledigen.“ Und worauf ist er am meisten stolz? „Dass Sankt Anna wieder den Zwiebelturm bekommen hat – das ist der schönste von ganz Tirol!“ Und danach zwinkert er einem zu: „A bissle Einbildung han i scho au.“
Auf der anderen Seite tue es ihm schon sehr weh, dass Reutte nun „kein Kloster, keine Franziskaner und keinen Pfarrer mehr hat“. Das gehe ihm schon sehr ab: „Die Patres haben zum Ortsbild gehört, bei denen haben wir ministriert, und man merkt, dass sie nicht nur kulturell, sondern auch religiös eine große Lücke hinterlassen haben.“ Eine leise Hoffnung wolle er, für den Religion immer wichtig war („Ich hatte ein gutes Elternhaus, das mich gelehrt hat, jeden Tag zu beten – und das tue ich heute noch“) nicht aufgeben: dass ein Orden auftauche, der das Kloster wieder übernehme. Es sei ja alles da, was man brauche. Und die Bausubstanz hervorragend.

ZEUGE DER ZEITGESCHICHTE.  Als 90-Jähriger ist Siegfried Singer ja auch Zeitzeuge für eine der schlimmsten Epochen der Geschichte: „Ich habe als junger Bub immer gedacht, der Krieg hört nie auf.“ Aber dann kamen am 29. April vor 75 Jahren doch die ersten amerikanischen Soldaten. Und der junge Siegi sah auf dem Markt zum ersten Mal einen schwarzen Menschen. Was ihn an der US-Army beeindruckte: „Die waren toll organisiert. Schon die Ersten wurden mit Brot, Kaffee und Essen versorgt. Sie hatten so ein schneeweißes Brot.“ Auch das kannte er vorher nicht.
In der ersten Nachkriegszeit lernten er und seine Familie indes den Hunger kennen: „Seither weiß ich um die Kostbarkeit eines Stückes Brot. Bei uns im Außerfern wächst ja nicht viel. Mit einem Wecken Brot mussten wir eine Woche lang auskommen.“ Daran liege es, dass er heute noch vom Gasthaus jedes Stück Brot mit nach Hause nehme, das übriggeblieben sei.
Von einem ist Reuttes Ehrenbürger vollauf überzeugt: „Das Furchtbarste sind Krieg und Diktatur.“ Das wisse er aus eigener Erfahrung: „Auch bei uns in Reutte hat in der NS-Zeit niemand dem anderen vertraut. Auch bei uns war das Denunziantentum gewaltig. Wir hatten immer Angst vor dem KZ.“ Und natürlich hätten alle um die Judenverfolgung gewusst: „Wenn danach so viele sagten und sagen, sie hätten von nichts gewusst, dann ist das einfach nicht wahr.“ Ihn habe alles interessiert, und er habe auch alles gewusst. Auch, dass man schon im April 1938 in Innsbruck einen Juden aus dem Fenster geworfen habe.

BEGEISTERTER RADLER. Aber zurück zu Erfreulicherem: Viele Reuttener sehen den Altbürgermeister noch heute vor sich, wie er auf seinem uralten Waffenrad durch die Gemeinde strampelt: „Ja, das war mein Fortbewegungsmittel und mein Markenzeichen. Ich hatte es seit meiner Jugend, es hat mich durch mein Leben begleitet, bis ich nicht mehr radeln konnte. Es hatte sehr starke Speichen, war einfach ein gutes Rad, und wenn es vor der Gemeinde stand, wussten die Leute – der Singer ist da!“
Mehr und mehr entwickelte Singer übrigens auch eine  große Leidenschaft: das Sammeln von Kunst und Antiquitäten. Kein Wunder, dass auf ihn die Gründung der Dengel-Galerie zurückgeht – wobei der Gemeinderat seine Kunst-Begeisterung nicht immer teilte und er manchen Ankauf aus eigener Tasche bestritt, weil das Gremium ihm nicht folgen wollte. Noch heute macht es ihm einen Heidenspaß, dass ab und zu „der Ochs gekalbt“ hat, ihm also eine Pretiose völlig unerwartet zufiel.
Und noch etwas verbinden viele Reuttener fast untrennbar mit Siegi Singer: seinen Hut. „Stimmt“, schmunzelt er: „Als ich in Innsbruck zur Schule ging, hatten wir einen Lehrer, der sogar vor mir als Schüler den Hut gezogen hat. Das hat mich für meinen Leben geprägt. Auch ich habe immer den Hut vor jedem gezogen – sei er nun Bettelmann oder Generaldirektor. Jeder Mensch verdient Respekt. Ich selbst habe mich nie für wichtig gehalten.“
Auch das ist eine Botschaft, die wohl aus Siegfried Singers tief verwurzeltem Glauben rührt. Kein Zweifel: Vor ihm und seinem Leben kann man nur den Hut ziehen. Alsdenn: Herzlichen Glückwunsch 90er!

GLÜCKWUNSCH. Das Team der RUNDSCHAU Reutte wünscht Altbürgermeister Siegfried Singer alles Gute zu seinem 90. Geburtstag und weiter viel Freude gemeinsam mit seiner Frau Doris und der Familie!


 

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