Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Kapellengeschichte – Der Mann mit der Muschel

Den Altar der Kapelle von Kelmen flankieren der Heilige Jakobus und sein Bruder Johannes

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Kelmen.
7. Juni 2022 | von Von Jürgen Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann

Manchmal kann man auch Angaben in hochoffiziellen Quellen nicht trauen, sondern kommt ins Zweifeln. Ein Beispiel gefällig? Wenn man in die wunderschöne Mariahilfkapelle von Kelmen geht, sich den herrlichen Altar mit Paul Zeillers Gemälde mit dem in Tirol ganz besonders populären Motiv vom Maria und dem Kinde etwas näher befasst und dabei sowohl im offiziellen Kirchenführer für das Berwanger Tal als auch auf der entsprechenden Info-Seite der Tiroler Zugspitzarena im Internet liest, denkt man sich: „Da kann doch was nicht stimmen!“ Da steht nämlich in beiden Fällen: „Seitlich stehen auf Podesten Figuren – links Heiliger Joseph, rechts Heiliger Johannes Evangelist.“ Doch schaut man sich diesen „Heiligen Joseph“ etwas näher an, sieht man: Der trägt ein Muschel an seinem Mantel und hält in der einen Hand einen Wanderstab und in der anderen ein Buch. Joseph, der Vater Jesu und Schutzpatron der Handwerker, ist indes gemeinhin mit einer Axt und/oder einer Lilie unterwegs, und so gehen sowohl der Schreiber dieser Zeilen als auch der um Rat gefragte Altdekan Ernst Pohler davon aus: „Das muss wohl eher der Heilige Jakobus sein.“ Und dabei bleiben wir für diesen Artikel einfach mal dabei.

ZWEI BRÜDER AM ALTAR. Jakobus wird ja mit den Jahren immer beliebter und ist quasi das personifizierte Comeback der Pilgertradition. Sein Attribut (eben die Muschel, die ja auch am Kelmener Altar zu sehen ist) ist zum weltweiten Erkennungszeichen der spirituellen Wanderer geworden. Aber schon in der Bibel zählt er (so eine Rangliste überhaupt gestattet ist) zu den „wichtigsten“, auf jeden Fall aber zuerst genannten Jüngern. Markus berichtet, dass „Jesus auf einen Berg stieg“ und „die zu sich rief, die er selbst wollte“. An der Spitze dieser zwölf Jünger rangiert in der Aufstellung Petrus, aber dann folgen sofort Jakobus und sein Bruder Johannes – und nachdem rechts auf dem Kelmener Altar zweifelsohne der am Kelch mit der Schlange erkennbare Johannes Evangelist steht, begegnen wir mithin einem weiteren Indiz, dass das Pendant links nicht der Heilige Joseph sein kann. Der unbekannte Künstler wollte wohl ganz bewusst die beiden Brüder, die laut Markus von Jesus ob deren Engagement für ihrem Meister und dessen Botschaft übrigens „Boanerges“ (also „Donnersöhne“ genannt wurden), einander gegenüberstellen und gemeinsam abbilden. Die beiden waren Söhne eines Fischers namens Zebedäus und Jesus ganz besonders verbunden. Johannes gilt in der Tradition der Kirche als der, der vermutlich mit der Umschreibung „der Jünger, den Jesus liebte“ gemeint ist, und beide begleiteten ihren Messias bei ganz besonderen Momenten – in der Verklärung (laut dem Kirchenvater Cyrill von Jerusalem auf dem Berg Horeb), aber auch in dessen Todesangst im Garten Gethsemane. In der Apostelgeschichte spielt Johannes neben Petrus eine ganz wichtige Rolle, Jakobus wird allerdings nur in zwei Versen erwähnt: „Um diese Zeit“ (vermutlich das Jahr 43 nach Christus) „legte der König Herodes Hand an einige der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.“ Gemeint ist damit nicht der aus der Weihnachtsgeschichte bekannte Herodes, sondern dessen Enkel, der vom römischen Kaiser Claudius eingesetzte Herodes Agrippa I. Wie dem auch sei: Jakobus gilt als der erste Jünger Jesu, der für seinen Glauben sein Leben ließ – also als erster Märtyrer unter den Aposteln.

VIELE LEGENDEN. Nach seinem Tod werden die Ereignisse geheimnisumwittert: Die einen sagen, er sei zunächst in Jerusalem bestattet worden und seine Gebeine 27 Jahre nach seinem Martyrium ins Jakobskloster auf dem Berg Horeb (das heutige Katharinenkloster) gebracht worden sein. Auf der iberischen Halbinsel behaupten Legenden steif und fest, dass der Gute das Evangelium in Spanien verkündet und sich anfangs des 9. Jahrhunderts auf dem „Sternenfeld“ (spanisch: Compostela) einem Einsiedler gezeigt und dem offenbart habe, sein wahres Grab befinde sich hier. 813, also zur Zeit Karls des Großen (dem er ebenfalls in einer Schlacht zur Seite gestanden haben soll), etablierte man dort ein Wallfahrtszentrum und setzte am 25. Juli (der bis heute der Gedenktag für Jakobus ist) 816 dort die (angeblichen oder tatsächlichen) Gebeine bei. 28 Jahre später soll Jakobus  indes in der Schlacht bei Clavijo auf einem Pferd den Truppen des asturischen Königs Ramiro vorangestürmt sein und so entscheidenden Anteil daran gehabt haben, die (muslimischen) Araber in die Flucht zu schlagen. Daher rührt sein Beiname „Maurentöter“ („Matamonus“), unter dem er nicht zuletzt in Spanien bekannt ist. Als die spanischen Könige Alfons II. und III.  in Santiago („Heiliger Jakob“) eine Basilika bauen ließen, startete der erste Wallfahrts-Boom. Schon in rund 1100 Jahre alten Quellen wird dabei über die ersten süddeutschen Pilger (aus der Bodenseeregion) berichtet, und als die  Reformen von Cluny auch eine Erneuerung des Glaubens nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der eigenen Sterblichkeit propagierten, wurde dann Santiago zu dem, was es heute ist: das christliche Pilgerziel schlechthin. Man baute die Kathedrale, verlegte den Bischofssitz von Iria Flavia dorthin, ließ feste Wege anlegen (im Mittelalter etwas ganz Außergewöhnliches). Von überall in der damals bekannten Welt strömten Pilger nach Santiago, und in Skandinavien sprach man in jenen Jahr sogar mehr von „Jakobsland“ als von „Spanien“. Weder Rom noch Jerusalem konnten als Wallfahrtziel mithalten, und manche entsandten gar Stellvertreter zur heiligen Stätte, um Ablass für ihre Sünden zu bekommen. Es entstanden wohl die ersten Wanderbücher der Geschichte: Pilgerführer, die die sich nach Erlösung Sehnenden ans Ziel lotsten. Ab Ende des 14. Jahrhunderts kümmerten sich Jakobus-Bruderschaften um die Pilger, denen im 15. Jahrhundert sogar vollkommener Ablass sämtlicher Sündenstrafen zugesagt wurde. Und aus dieser Zeit stammt auch der Brauch, den Pilgern eine Muschel zu überreichen, die diese dann an ihren breitkrempigen Hut hefteten (der Kelmener Jakobus trägt sie am Mantel) – allerdings erst am Ziel in Santiago, quasi als stolze Botschaft auf dem Weg nach Hause. Unter dem Motto: „Ich hab's geschafft!“ Heute pilgert man gleich mit der Muschel hin nach Santiago.

LUTHERS SPOTT. Der große Reformator Martin Luthers hatte indes mit dem Pilgern buchstäblich nichts am Hut. In seiner Schrift „Discrimen veri ac falsi“ („Unterscheidung des Wahren vom Falschen“) spottete er unverhohlen darüber: „Wie Jakobus nach Hispanien gekommen, da die groß Wallfahrt dorthin führt, da haben wir nichts gewiss...Darumb lass ihn liegen und lauff nit dahin, denn man waisst nit, ob Sanct Jacob oder ain todter Hund oder ein todts Ross da liegt. Lass reisen, wer da will, bleib du daheim!“ Ironie der (Glaubens-)Geschichte: Unter den Pilgern von heute, die die fast unzähligen Jakobswege durch Europa wieder bevölkern, nachdem die Wallfahrt nach Santiago fast schon zum Erliegen gekommen war, befindet sich ein erklecklicher Anteil an Glaubensgeschwistern Luthers, die das Pilgern als spirituellen Weg für sich entdeckt haben.

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