Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Kapellengeschichte Teil 41: Das arme Mädchen und die Muttergottes

Die Lourdes-Kapelle in Weißenbach erzählt von Wundern und Hoffnungen

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Weißenbach.
31. Oktober 2022 | von Von Jürgen Gerrmann
Ihre Vision führte zu einer der weltweit populärsten Marienwallfahrten: So wird das arme Mädchen Bernadette in der Lourdes-Kapelle von Weißenbach dargestellt. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann

Das kleine Kirchlein, das in Unterbach gleich am Ortseingang (von Reutte aus gesehen) steht, hat es den Weißenbachern wohl schon angetan, seit es um 1885 errichtet wurde. Ältere aus dem Dorf berichteten zum Beispiel Pfarrer Andreas Jedinger, dass die Menschen früher auf dem Heimweg vom Feld dort noch innegehalten hätten, um ein Gebet zu sprechen. Und davon, wie sehr es den Menschen auch heute noch ans Herz gewachsen ist, zeugen auch die Erneuerung der Schindeln auf Dach und Türmchen 2021 und die Innenrenovierung heuer, bei der die alte Bemalung unter vier Schichten wieder freigelegt und restauriert wurde. Nicht zuletzt Johann Alber war dies ein Herzensanliegen und er engagierte sich mit Leib und Seele dafür, dass der 1991 ins Tiroler Kunstkataster aufgenommene „kleine Kapellenbau aus Sichtziegelmauerwerk, über rechteckigem Grundriss, mit eingezogener Apsis, steilem schindelgedecktem Satteldach und turmartigem Dachreiter mit Zeltdach“ sich nun wieder so wunderschön präsentieren kann.

DIE GROTTE AM FUSS DER PYRENÄEN. Die Wurzel der kleinen Kapelle liegt in Ereignissen, die sich zwischen dem 11. Februar und dem 16. Juli 1858 insgesamt 18 mal zugetragen haben sollen: In einer Grotte beim Fluss Gave de Pau im Südwesten Frankreichs zeigte sich (so die Überzeugung derer, die daran glauben) die Muttergottes der Müllerstochter Bernadette Soubirous. Deren Familie war bitterarm, denn die Wassermühle ihrer Eltern war der industriellen Konkurrenz nicht mehr gewachsen, der Vater gab auf und versuchte sich als Taglöhner durchzuschlagen, während die Mutter auf dem Feld, in einer Wäscherei und durch Kleiderflicken ein Einkommen zu erzielen versuchte. Die Familie verlor dennoch ihr Dach über dem Kopf und musste in ein leerstehendes Haus ziehen, in das man zuvor Spitzbuben eingesperrt hatte. „Kerker“ wurde es daher im Dorf genannt. In der Region am Fuße der Pyrenäen hatte es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wahre Bevölkerungsexplosion gegeben: 1846 lebten 40 Prozent mehr Menschen dort als 1801. Aber unter welchen Bedingungen! Viele wussten nicht, was sie am nächsten Tag essen sollten, Seuchen grassierten. Und so litt Bernadette schon als kleines Kind unter Asthma, das sich noch verschlimmerte, als sie als Elfjährige auch noch die Cholera ereilte. Und zu alledem kam noch die Gewalt, der sie von klein auf ausgesetzt war: Schläge im Elternhaus, aber auch von ihrer Patentante, in deren Kneipe sie ab dem zwölften Lebensjahr arbeiten musste, waren eher die Regel denn die Ausnahme.

„UNBEFLECKTE EMPFÄNGNIS“. An jenem 11. Februar 1858 hatte sie sich mit ihrer Schwester Antoinette und ihrer Freundin Jeanne zum Holzsammeln aufgemacht, als sie (so ihre eigene Erzählung) zum ersten Mal eine Erscheinung hatte: „Ich hörte ein Geräusch und drehte mich um nach der Wiese. Aber die Bäume bewegten sich nicht. Da schaute ich zu der Höhle hin. Dort sah ich eine Dame in weißen Gewändern. Sie trug ein weißes Kleid, das mit einer blauen Schärpe gegürtet war.“ Der luxemburgische Historiker und Theologe Patrick Dondelinger, der sich intensiv mit Bernadette beschäftigte, weist in seinem Buch über deren „Visionen und Wunder“ übrigens darauf hin, dass die  von Papst Pius XI. 1925 selig und 1933 Heiliggesprochene selbst nie behauptet habe, der Gottesmutter begegnet zu sein: „Ich sage nicht, ich hätte die Heilige Jungfrau gesehen, ich sah die Erscheinung“, äußerte sie im Gespräch mit einem Jesuitenpater. Gegenüber dem Pfarrer von Lourdes, dem Ort, der durch sie weltberühmt werden sollte, benutzte sie ein Wort aus dem lokalen Dialekt der okzitanischen Sprache, die die Armen dort verwendeten (Hochfranzösisch konnte sie nicht): „Aqueró.“ Zu deutsch: „Die da.“ Das genügte dem geistlichen Herren natürlich nicht, und so gab er ihr den Auftrag, „die da“ nach ihrem Namen zu fragen. Gesagt, getan. Resultat: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis.“ Was sich gut traf, denn der Papst Pius IX. (der später auch die päpstliche Unfehlbarkeit verkünden sollte) hatte erst kurz davor das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens erlassen. Das hat nichts mit der im Glaubensbekenntnis enthaltenen Jungfrauengeburt zu tun, sondern sollte zum Ausdruck bringen, dass Maria von ihrer Geburt an nichts mit dem Makel der Erbsünde zu tun gehabt habe. Wie dem auch sei: Die anfängliche Skepsis des Priesters wich. Da Bernadette weder in Schule noch in der Kirche eine nennenswerte Bildung erfahren hatte, war er überzeugt, das Mädchen könne sich das nicht ausgedacht haben – vielmehr handle es sich bei der Erscheinung um die Mutter Jesu. Nun nahmen die Dinge ihren Lauf, und Lourdes wurde zu einem der weltweit populärsten Wallfahrtsorte. Marie aber trat ins Kloster ein und kehrte danach bis zu ihrem Tode nie mehr in die Grotte, zu der schon zu ihren Lebzeiten die Massen pilgerten, zurück. Im Alter von gerade mal 35 Jahren starb sie  an Knochentuberkulose – ein richtig glückliches Leben scheint sie also auch nach ihren Visionen nicht gehabt zu haben. Zumal auch ihre Novizenmeisterin nicht an eine „authentische übernatürliche Erfahrung“ glaubte und sich sowohl gegen die Verehrung ihres Schützlings als auch gegen den Heiligsprechungsprozess aussprach.

BEGEISTERUNG – GERADE IN TIROL. Aber dennoch brach sich die Begeisterung für das Wunder von Lourdes Bahn. An allen Ecken und Enden der Welt finden sich nachgebaute Grotten – und Österreich (und speziell in Tirol) ist da quasi Spitzenreiter. Allein zwischen Matrei in Osttirol und Tannheim finden sich sechseinhalbmal so viel Lourdeskirchen und -kapellen wie in ganz Frankreich – nämlich sage und schreibe 52! Und man beachte: Das Kirchlein in Weißenbach wurde gerade Mal sechs Jahre nach Bernadettes Tod errichtet! Die Kirchen und Kapellen haben (um es mit einem modernen Wort auszudrücken) gewissermaßen eine „Corporate Identity“. Dazu gehört auch die berühmte Marienstatue, deren Original der französische Bildhauer Joseph-Hugues Fabisch 1864 nach persönlichen Gesprächen mit Bernadette anfertigte. 20 000 Menschen kamen zu deren Weihe. Indes: Bernadette selbst sah keinerlei Ähnlichkeit mit der „schönen Dame“, die sie gesehen haben wollte. Für den offiziellen Bildhauer des Erzbistums Lyon war dies übrigens „der größte Kummer meines Künstlerlebens“. Zudem ist ein Brunnen in die Szene integriert, denn schließlich pilgern auch heute noch sechs Millionen Menschen zu der Quelle, die Bernadette auf Geheiß ihrer Erscheinung freigelegt haben will. Dem Wasser dort wird wundertätige Wirkung nachgesagt: 122 000 Liter fließen pro Tag und werden in Brunnen und Bädern für die Menschen aufgefangen, die sich Heilung von ihm erhoffen. Doch dieser abermillionenfachen Hoffnung in der über 150-jährigen Geschichte des Wallfahrtsortes stehen gerade mal 70 Wunderheilungen entgegen, die die katholische Kirche offiziell anerkannt hat. Aber sind es nicht gerade die (gleich ob erfüllten oder enttäuschten) Hoffnungen, von denen  diese Kapellen erzählen? Und in Weißenbach lohnt sich da das genaue hinschauen: Auf den Ziegeln sind die Namen und Inschriften von Menschen zu sehen, die sich dort noch während des Kaiserreichs verewigt haben. Über die Gründe darf spekuliert werden: Wollten sie nur ein „Graffiti“ (wie man heute sagen würde) hinterlassen oder erhofften sie sich Heilung? Wer weiß?! Aber sie haben ihre Spuren hinterlassen – und das ist auch etwas, auf das vermutlich jeder Mensch hofft.

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