Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Auch Trauer braucht ihren Platz

An der Reuttener Straße in Ehenbichl ist die Beweinung Christi dargestellt

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Ehenbichl.
9. Jänner 2023 | von Jürgen Gerrmann
Die Trauer um den Kreuzestod Jesu prägt das Gemälde im Bildstock an der Reuttener Straße in Ehenbichl. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Streng genommen handelt es sich um gar keine Kapelle, sondern eher um einen großen Bildstock. Aber dennoch zieht der Bau mit dem schindelgedeckten Walmdach auch die Blicke von Autofahrern an, die auf der Reuttener Straße zwischen der Kög und Ehenbichl unterwegs sind. Kapelle oder nicht: Diese spirituelle Stätte hat es unter der Nummer 27 880 in das Tiroler Kunstkataster geschafft. Und obwohl das Denkmal am Wegesrand gerade mal 50 Jahre alt ist, lohnt sich das genaue Hinschauen – nicht zuletzt wegen des viel älteren Gemäldes dort. Das Bild aus dem Jahr 1863 zeigt nämlich ein eher seltenes Motiv: die „Beweinung Christi“.

LÜCKE IN DER BIBEL?
Es füllt damit quasi eine Lücke in der Bibel. Denn dort folgt ja nach dem Tod am Kreuz quasi sofort die Grablegung durch Josef, einen reichen Mann aus Arimathäa (dem heutigen Rantis in den Westbanks der Palästinensergebiete): „Der ging zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Da befahl Pilatus, ihm den Leichnam zu überlassen. Josef nahm den Leichnam und hüllte ihn in ein reines Leinentuch. Dann legte er ihn in ein neues Grab, das er für sich selbst in einen Felsen hatte hauen lassen. Er wälzte einen großen Stein vor den Eingang des Grabes und ging weg“, berichtet zum Beispiel Matthäus. Die Trauer der Menschen, die Jesus geliebt hatten (und er sie), hatte freilich in der „offiziellen“ Bibel keinen Platz gefunden. Lediglich im 23. Kapitel des Lukas-Evangeliums taucht eine Passage auf, die sich entfernt so interpretieren ließe: „Alle seine Bekannten aber standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm von Galiläa aus gefolgt waren und dies mit ansahen.“ Um das Jahr 400 war das Neue Testament kanonisiert worden – man hatte also festgelegt, was darin aufgenommen werden sollte und was nicht. Aber mit den Jahrhunderten stellte man offenkundig fest, das den Menschen etwas fehlte: Sie konnten (respektive wollten) sich offensichtlich nicht vorstellen, dass Maria es nur mehr oder minder zur Kenntnis genommen haben soll, dass ihr Sohn am Kreuz hatte sterben müssen. Oder dass Jünger und Freunde ohne Schmerz Leiden und Tod hingenommen hätten. Autoren „apokrypher“ (das griechische Wort für „verborgen“) Schriften, die keinen Eingang ins Neue Testament fanden, gaben solchen Emotionen freilich Raum. Mitte des 4. Jahrhunderts nahm zum Beispiel der Verfasser des Nikodemusevangeliums (dessen erster Teil auch als „Pilatusakten“ bezeichnet wird) diesen Aspekt auf. In diesem Text heißt es: „Der Hauptmann aber meldete dem Statthalter das Geschehene. Als dieser und sein Weib das hörten, wurden sie von großer Trauer erfasst, und sie aßen nicht und tranken nicht an jenem Tage.“ Dieses nichtbiblische Manuskript hat übrigens große Wirkungskraft entfaltet: Auch die im Mittelalter sehr populären Legenden von Veronika, die Jesus ein Schweißtuch reicht, und vom Soldaten Longinus, der Jesus mit der Lanze in die Seite sticht, stammen daraus. Der Autor des viel älteren Petrus-Evangeliums erzählt von den Ereignissen um den Tod Jesu in Ich-Form (allerdings glaubt die überwältigende Mehrheit der Bibelwissenschaftler nicht, dass es der Apostel und erste Papst selbst niedergeschrieben hat). Der lässt selbst die Ältesten und Priester der Juden trauern: Weil sie „erkannten, welches Übel sie angetan hatten“. Und von sich schreibt er: „Ich aber trauerte mit den Gefährten, und verstörten Sinnes versteckten wir uns. Wir wurden nämlich von ihnen wie Verbrecher gesucht, als wollten wir den Tempel anzünden.“

DICHTUNG, MALEREI, MUSIK.
Auch ein berühmtes mittelalterliches Gedicht behandelte das Trauer-Thema in aller Ausführlichkeit: „Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint' vor Schmerzen, als ihr lieber Sohn dort hing. Durch die Seele voller Trauer, schneidend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Leidens ging“, hat Heinrich Bone 1847 das „Stabat Mater“ (dessen erste Abschrift aus dem 13. Jahrhundert stammt und das mal Papst Innozenz III., mal dem Franziskanertheologen Bonaventura zugeschrieben wird) ins Deutsche übersetzt. Es inspirierte auch zahlreiche berühmte Komponisten – von Antonio Vivaldi über Joseph Haydn, Franz Schubert und Franz Liszt bis hin zu Gioachino Rossini, Giuseppe Verdi und Antonin Dvořák. Kein Wunder also, dass das Motiv der Beweinung Christi auch in der Kunst vom Spätmittelalter bis zum Barock große Popularität erlangte: Albrecht Dürer hat sich ihm ebenso gewidmet wie die Italiener Giotto, Botticelli oder del Sarto. Das Ehenbichler Gemälde, mit dem Eltern 1863 ihre Tochter Aloysia ehren wollten, ist mithin ein eher später Vertreter dieses Bildtypus. Und auch etwas Besonderes: Bei den Prototypen der Darstellung dieser Szene trauern in der Regel sieben Menschen um den toten Jesus – die Muttergottes, der Jünger Johannes, Josef von Arimathäa, Nikodemus, Maria Magdalena und die Schwestern Salome und Maria des Kleophas. Hier in der Reuttener Straße sind es nur zwei: Maria und Maria Magdalena. Die Botschaft bleibt allerdings unverändert: Auch Trauer braucht ihren Platz. Nicht nur in der Bibel.

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