Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Die Großmutter Jesu

Die Kapelle in Obergrünau ist der heiligen Anna geweiht

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Obergrünau.
18. Juli 2022 | von Jürgen Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Wenn man von Bach auf der rechten Seite lechabwärts wandert, dann sieht man sie gleich am Ortsrand von Obergrünau: Die Annakapelle  liegt höchst idyllisch am Rande einer Wiese, und will man zu ihr, muss man zuerst durch einen kleinen Lattenzaun, der einen im ersten Moment vermuten lässt, man könne gar nicht in das vermutlich im 18. Jahrhundert entstandene Kirchlein hinein. Aber wer dieses Vor-urteil überprüft und hineintritt, der kommt unter der wunderschönen hölzernen Kassettendecke aus dem Staunen nicht heraus. Vor allem die verschiedenartigen Annen-, Marien- und Jesusdarstellungen faszinieren einen dabei.
  
ANNA SELBDRITT.
Der Altar nimmt zum Beispiel das Motiv von Anna selbdritt auf. Dieser heute etwas sperrig und unverständlich wirkende Begriff bedeutet, dass Jesus dabei zusammen mit seiner Mutter Maria und seiner Großmutter Anna abgebildet ist. Im späten Mittelalter, wo dieses Motiv besonders in Deutschland und den Niederlanden, aber auch in Italien und Spanien als Andachtsbild sehr beliebt war (auch Leonardo da Vinci malte ein beliebtes Exemplar, das sogar von Sigmund Freud und dessen Epigonen psychologisch interpretiert wurde), sagte man statt „zu dritt“ eben „selbdritt“. In der Volksfrömmigkeit erfreute sich Anna auf jeden Fall großer Popularität, und auch Reuttes große Kirche ist ja nach ihr benannt. Diese Beliebtheit ist zwar etwas erstaunlich,, denn schließlich erwähnen sie weder Matthäus noch Markus noch Lukas noch Johannes in ihren Evangelien. Im frühen Christentum spielten indes auch Schriften eine große Rolle, die keinen Eingang in die Bibel gefunden hatten, oft aber einfach schöne Geschichten enthielten. Und manche der Protagonisten dieser „Apokryphen“ wurden später sogar zu Heiligen erhoben, nachdem ihre Vita immer weiter ausgeschmückt worden war. Anna ist da quasi ein Musterbeispiel dafür.
  
AUS DEM OSTEN IN DEN WESTEN.
Bis etwa 550 nach Christus gibt es keinerlei Spuren der Verehrung von „Jesu Großmutter“ (Papst Gelasius I. hatte dies in einem Dekret sogar für die Westkirche verboten), erst dann weihte man ihr eine Kirche in Konstantinopel. Was für rund 600 Jahre ohne größere Resonanz blieb. 1142 ließ dann die Witwe Balduins I., eines Grafen von Verdun, der nach dem Ersten Kreuzzug zum König von Jerusalem avancierte,  eine Annenkirche in der Nähe des Bethesdateiches, wo Jesus einen Lahmen geheilt haben soll („Steh auf, nimm deine Bahre und geh!“), erbauen. Man war nämlich der Auffassung, dass dort Anna mit ihrem Mann Joachim gelebt habe. Die Legende um die beiden orientiert sich dabei an einem Vorbild aus dem Alten Testament: Hanna soll lange kinderlos geblieben sein, dann aber nach einem Gelübde den Propheten Samuel geboren haben. Auch bei Anna soll es 20 Jahre gedauert haben, bis ein Engel ihr und ihrem Mann die Geburt Marias ankündigte, die dann wie Samuel Gott geweiht wurde. Kreuzfahrer brachten dann auch die Geschichte von Anna und den Kult um sie aus dem Heiligen Land nach Westeuropa, und vor allem die Franziskaner befeuerten den (auch wieder eine Parallele zu Reutte). 1481 ließ Papst Sixtus IV. (Francesco della Rovere aus der Nähe von Savona an der ligurischen Küste) dann ihren Gedenktag in den römischen Kalender aufnehmen: Den 26. Juli. An diesem Fest spielte in der Liturgie die Vorstellung der „mutier fortis“, der starken Frau also, eine zentrale Rolle, und nicht zuletzt deswegen machten sie zahlreiche Zünfte und Bruderschaften zu ihrer Patronin. Auch sonst erlebte Anna einen regelrechten Boom: „Annagürtel“ sollten Frauen vor der Unfruchtbarkeit bewahren, man weihte ihr Glocken und deklarierte die neuen Dienstage vor Ostern als „Annendienstage“, sollte sie doch an einem Dienstag das Zeitliche gesegnet haben).
Anna soll der Überlieferung zufolge für die Mütter sowie die Ehe, Hausfrauen, Hausangestellte, Ammen, Witwen, Arme und Arbeiterinnen beschützen, aber auch für Bergleute, Weber, Schneider, Strumpfwirker, Spitzenklöppler, Knechte, Müller, Krämer, Schiffer, Seiler, Tischler, Drechsler, Goldschmiede und Bergwerke „zuständig“ sein. Und man bittet sie um Hilfe für eine glückliche Heirat und eine glückliche Geburt. Menschen, die Reichtum erstreben, setzen ebenso auf sie wie solche, die etwas verloren haben. Sie soll gleichermaßen vor Gewitter schützen wie segensreichen Regen niederfließen lassen. Und bei Gicht, Fieber sowie Kopf-, Brust- und Bauchschmerzen Linderung und Heilung bringen. Obwohl sie ja so lange auf Maria warten musste, war Anna der Legende nach übrigens danach noch reicher Kindersegen zuteil. Als Joachim starb, soll sie nämlich Kleophas geheiratet und wieder eine Maria („Maria des Kleophas“ genannt) geboren haben. Die Stiefschwester Marias soll wiederum die Mütter der Apostel Jakobus der Jüngere, Joseph Barsabbas, Simon der Zelote und Judas Thaddäus sein. Und als sie nach ihrer zweiten Witwenschaft einen Salomas ehelichte, erblickte nochmal ein bedeutetende Maria (diesmal Salomas) das Licht der Welt: Die Mutter des Evangelisten Johannes und des „Pilgerheiligen“ Jakobus. Anna steht daher im Mittelpunkt der sogenannten „Heiligen Sippe“, die in der sakralen Kunst besonders zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert sehr populär war.
  
WEGEN ANNA INS KLOSTER.
Wenn man so will, hat übrigens sogar die evangelische Kirche Anna eine Menge zu verdanken. Am 2. Juli 1505 geriet nämlich ein junger Medizinstudent auf dem Rückweg von einem Besuch bei den Eltern in Mansfeld zu seinem Studienort Erfurt in der Nähe von Stotternheim in Thüringen in ein Gewitter. Die Angst streckte ihn nieder und er flehte (so auch die Legende): „Heilige Mutter Anna, hilf! Lässt Du mich leben, so will ich ein Mönch werden!“ Der junge Mann hielt Wort. Und ging zwei Wochen später ins Augustinuskloster in Erfurt. „Sankt Anna war mein Abgott“, hat er auf jeden Fall später gesagt. Von Zweifeln geplagt, mühte er sich um die Reformation seiner Kirche, die ihm indes nicht so gelang, wie er es eigentlich wollte, und daher eine neue entstand. Freilich: Ohne das Versprechen an die Heilige Anna hätte es den Theologen Martin Luther vielleicht nie gegeben. Und auch keine protestantische Kirche.

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