Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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„In einer sagenhaften Welt“

Eine Wanderung von Lech hinüber ins Krabachtal

Von der mondänen Sommerfrische in ein einsames und ursprünglich gebliebenes Tiroler Bergbauerntal – diese eindrucksvolle und wunderschöne „Wanderung zwischen zwei Welten“ kann man am westlichen Rand des Außerferns so richtig genießen. Die RUNDSCHAU ist für ihre Leser von Lech über die Rauhkopfscharte und die Stuttgarter Hütte ins und durchs Krabachtal gewandert.
25. Juli 2022 | von Jürgen Gerrmann
Die Landesgrenze zwischen Vorarlberg und Tirol – für den Wanderer hat sie keinerlei Bedeutung… S-Fotos: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Ein Spaziergang ist diese Tour nicht gerade. Sie erfordert schon eine gewisse körperliche Fitness. Aber wer ein paar Schweißperlen auf der Stirn in Kauf zu nehmen bereit ist, der wird einen wunderschönen Tag erleben, den er so schnell nicht vergisst. Wer ihn so organisieren möchte wie wir, der fährt mit dem Auto frühmorgens durchs Lechtal hinauf nach Lech (wobei schon die Anreise dank der Stimmung in den ersten Stunden des Tages ein Erlebnis ist) und stellt sein Vehikel in der Tiefgarage Anger ab. Dort sind die Parkgebühren auch nicht höher als an vielen Orten im Tannheimer Tal. Und von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Rüfikopfbahn, die einen großen Anteil am stressfreien Wandervergnügen haben wird.
Wer früh genug oben in der Nähe des Ursprungs des „letzten Wilden“ (Flusses) der Nordalpen ist, kann noch durch das von Walsern gegründete Bergdorf Lech schlendern, das es bei allem touristischen Erfolg doch tatsächlich geschafft hat, sich eine Identität zu bewahren, die den Kontakt zu den Wurzeln nicht verloren hat. Das traditionelle Satteldach ist hier „Corporate Identity“ (wie es im Marketingsprech von heute heißt), und so nimmt es kein Wunder, dass Lech 2004 sogar zum „schönsten Dorf Europas“ gekürt wurde.

START AM RÜFIKOPF.
Identitätsstiftend ist ganz sicher auch die alte Pfarrkirche St. Nikolaus (dieser Heilige hat für die Walser eine ganz besondere Bedeutung), die fast so alt ist wie das Dorf selbst, das laut His-torikern „im 13./14. Jahrhundert“ gegründet wurde. Das gotische Gotteshaus wiederum wird auf „etwa 1390“ datiert. Auf jeden Fall sieht man den fantastischen 33 Meter hohen Turm mit seinem Zwiebeldach weithin – und natürlich auch während der Bergfahrt mit der Rüfikopfbahn. Wobei es unbedingt zu empfehlen ist, gleich die erste Gondel um 8.30 Uhr zu nehmen – das erspart einem nämlich eine Menge Hektik.
In nur rund zehn Minuten überwindet man nämlich die rund 900 Höhenmeter bis zum eigentlichen Start der ganz hervorragend markierten Wanderung. Und dadurch bleibt auch noch Zeit, sich mit der einen oder anderen Station des hier oben ebenfalls angelegten Geowegs zu befassen und dadurch praktisch durch Jahrmillionen zu spazieren. Zumal man schon in der Bergstation einen Blick auf die Muscheln und Tintenfische, die hier einst in Gipfelnähe im Urmeer umherschwammen, zu werfen vermochte.
Wer (die in Vorarlberg grauen) Wanderschilder im Auge behält, der kann dabei den Weg hinunter ins Ochsengümpele gar nicht verfehlen. Und in dieser faszinierenden Hochmoorlandschaft verfallen im Bergfrühling vor allem Blumenfreunde in pure Begeisterung. Wollgras und jede Menge Orchideen sind da nur wenige Beispiele für all das, was da auf einen wartet. Und so fällt einem kaum auf, dass der Anstieg an der Abzweigung zum Bockbachtal vorbei (das ja auch hinunter ins Außerfern führt) zuweilen doch recht zackig ist.

AN DER LANDESGRENZE.
In mehr oder minder eineinhalb Stunden hat man dann die Rauhkopfscharte erreicht. Der Grenzstein auf 2415 Metern trennt Vorarlberg von Tirol – aber im Grunde zeigt er nur auf, wie unwichtig und überflüssig Grenzen zwischen Bundesländern und auch Nationalstaaten letztlich sind. Stünde er nicht dort – niemand würde ein Unterschied überhaupt auffallen, geschweige denn, sich jemand dafür interessieren…
Eher zieht da schon die rund 100 Meter tiefer und eine knappe halbe Stunde entfernte Stuttgarter Hütte die Blicke an – und die ist auch ein überaus lohnendes Zwischenziel. Erbaut wurde sie 1910, als Österreich(-Ungarn) und Deutschland noch von einem Kaiser (Franz Joseph I. auf der einen, Wilhelm II. auf der anderen Seite) regiert wurden und es einen gemeinsamen Alpenverein  gab, schon zwei Jahrzehnte später war sie baufällig, wurde abgerissen und 1936 wieder neu aufgebaut.

VOM MOUNT EVEREST INS LECHTAL.
Auch einmal abgesehen von dieser reichen Geschichte und der einfach traumhaften Lage ist die Stuttgarter Hütte etwas ganz Besonderes: Ein Nepalese fungiert dort nicht nur als Hilfskraft, sondern er ist der Chef – und was für einer! Ang Kami Lama stand zum Beispiel noch vor ein paar Monaten auf dem Gipfel des höchs-sten Berges der Erde – und der Mount Everest ist immerhin rund viermal so hoch wie der Standort „seiner“ Hütte, die er seit vergangenem Jahr führt! Was für ein Gefühl ist das eigentlich? „Sicher eine der schönsten Erfahrungen im Leben. Ich hatte einen Blackout vor lauter Freude. Nichts ist mehr über Dir, nichts kann mehr über Dir sein – das ist einfach unerzählbar und unbezahlbar.“
Wobei er sich auch in Tirol im Allgemeinen und im Außerfern im Besonderen pudelwohl fühlt: 2011/12 arbeitete er zum Beispiel auf der Bad Kissinger Hütte überm Tannheimer Tal und sieben Jahre später auf der Singer-Hütte am Hahnenkamm überm Reuttener Becken. Nach einem Intermezzo auf der Sudetendeutschen Hütte, die wie die Stuttgarter Hütte ebenfalls zur Sektion Schwaben des Deutschen Alpenvereins gehört, zog es ihn dann wieder zurück in den Bezirk Reutte.
Was gefällt ihm denn als Angehörigem des Bergvolks der Sherpa an seinem jetzigen Wirkungsort? „Das einfach wunderbare 360-Grad-Panorama. Von anderen Hütten aus kann man oft nur in eine Richtung blicken.“ Aber, wenn er jetzt vor die Tür tritt oder sich zu seinen Gästen auf die Terrasse setzt, dann geht ihm einfach das Herz auf.
Übrigens: Schon auf dem Weg vom Rüfikopf schwärmen einem entgegenkommende Wanderer vom Essen auf der Stuttgarter Hütte vor. Auch das darf wahrlich unter „außergewöhnlich“ eingestuft werden: Denn mehr als ein Hauch von Nepal durchweht dort die Küche. Mittags kann man sich die für diesen Teil Asiens typischen Momos (entweder mit Hackfleisch oder mit Spinat gefüllt) schmecken lassen, und abends kommt das legendäre Daal Bhat („Das bedeutet eigentlich Linsen mit Reis“) auf den Tisch – für Fleischliebhaber mit Hühnchenfleisch als Chicken Curry, und auch für Vegetarier und Veganer gibt es Varianten. Zunächst war das nur ein zarter Versuch einer Alternative zum traditionellen Tiroler Gröstl oder den ansonsten scheinbar unverzichtbaren Spaghetti Bolognese. Aber dann entwickelte sich das regelrecht zum Kult, der auch auf Nachbarhütten schon Nachahmer gefunden hat. 95 Prozent entscheiden sich abends mittlerweile für die Delikatesse aus dem Himalaya: „Die Leute freuen sich, wenn sie mal unser Nationalgericht probieren können.“ Und diese so positive Resonanz freut wiederum Ang Kami Lama: „Ich habe hier einen Platz gefunden, an dem ich lange bleiben will. Ich bin Hüttenwirt aus Leidenschaft.“ Man merkt es ihm deutlich an.

EIN TAL ZUM STAUNEN.
Eine große Gefahr besteht übrigens an diesem herrlichen Fleckchen Erde: Man kann sich nur schwer von ihm trennen. Aber einmal muss es dann doch sein, denn hinab durchs Krabachtal zum Lech braucht man schon vier Stunden. Und weil dort die Natur so schön ist und immer wieder zum Innehalten, Genießen und Staunen ermuntert, dauert es eher länger hinunter.
Für Liselotte Paulmichl, einst passionierte Lehrerin und heute eine prima Heimatautorin, war Mitte der 60er-Jahre des vergangenen Jahrunderts indes der umgekehrte Weg hinauf ein intensives Erlebnis: Mit ihrer Mama Mathilde und dem Papa, dem Hansl Hauser, gibt es drei Sommer hinauf auf die Krabachalm: eine Zeit, die sie tief prägte und die auch in ihrem neuen Buch, das im frühen Herbst erscheinen wird, in Reuttes Bücherei Premiere feiert und für das bisher nur ein Arbeitstitel feststeht („Aufbruch in die 60er“) eine ganz zentrale Rolle spielt: „Es gab im Grunde keinen rechten Weg hinauf, wir mussten mit 120 Stück Jungvieh und 20 Kühen immer am Bach entlanggehen und auch über Lawinenkegel drüber.“ Die ersten Wochen blieb man naturgemäß noch weiter unten, aber dann ging’s hinauf zum Furmesgump – und die große Zeit der kleinen Lotte begann: „Obwohl ich im Alter von 13 bis 15 Jahren kein solche Faible für Naturschönheiten hatte wie heute, hat das Krabachtal für mich schon damals eine ungeheure Faszination ausgeübt.“ Wie die Wolken dort ziehen am himmlischen Zelt – das inspirierte ihre Fantasie gewaltig: „Ich sah die verschiedensten Gestalten, ich war in einer sagenhaften Welt.“ In den Zacken der Fanggekarspitze sah sie Flugzeuge verschwinden und stellte sich vor, wo die dann wohl hin seien. Viele Wunder erlebte die kleine Lotte in ihrer Gedankenwelt, aber eins gehört, auch wenn man heute durch das immer noch einsame Krabachtal geht, nicht dazu – dass sie heute sagt: „Dieses Tal hat mich geprägt. Diese Fantasien kommen mir heute noch zugute. Diese Zeit als junges Mädchen dort  war ein Schatz, der sich erst später als solcher herausgestellt hat.“
Ein Höhepunkt waren für sie dabei stets auch die nur zwei, drei Tage, die man mit den Kühen rund um die Stuttgarter Hütte verbrachte: „Das war wunderbar! Wir sahen die Touristen von Zürs herauf- oder dem Rüfikopf herüberkommen. Einmal habe ich im Gras eine fast leere Flasche 4711 gefunden. Da hab ich immer wieder dran gerochen, sie nachts unter mein Kissen gelegt und gedacht, es wäre schön, mal in die weite Welt zu kommen.“ So wie die Wolken dort oben  am himmlischen Zelt eben. Ihre engste Verbindung zur Heimat symbolisieren wiederum das zahme Murmeltier, das immer vorbeischaute, um frisch gemolkene Milch zu trinken und sogar bei der Familie drunten im Tal einen Winter verbrachte – und auch das Himbeer-Skiwasser, das der Vater den Kindern immer auf der Stuttgarter Hütte spendierte, obwohl das mit zehn Schilling für damalige Verhältnisse unglaublich teuer war.
Bedauert sie nun  nun, dass das Krabachtal nun so viel leichter zugänglich ist? „Ich verstehe schon, dass die Straße da hinauf gebaut wurde. Sonst würden die herrlichen Blumenwiesen dort oben vielleicht gar nicht mehr gemäht. Niemand geht mehr wie meine Mama damals mit einem ultraschweren Rucksack voller Lebensmittel für ein paar Wochen vier Stunden lang den Berg hinauf. Aber die hat immer nur gesagt ,Wenn man ihn mal auf dem Rücken hat, dann geht das schon‘.“  Der Tageswanderer von heute kommt derweil nach einer fantastischen Tour mit leichtem Gepäck unten am Parkplatz in der Nähe von Prenten mit der Bushaltestelle Abzweig Krabach-/Bockbachtal an. Sein einziges Problem: Er muss den letzten Bus nach Lech erwischen. Der fährt heuer um 17.13 Uhr. Aber das ist durchaus zu schaffen.

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