So war es früher – Ausgabe Telfs (07/2022)
Den Gemeinderat zu wählen, wie es demnächst wieder der Fall ist, erscheint uns heute ganz selbstverständlich. Doch das war es nicht immer. Die ersten wirklich demokratisch gewählten Gemeindevertretungen gab es in Tirol im Jahr 1919, also vor etwas mehr als 100 Jahren. Aus dieser Zeit stammt die hier abgebildete, handgeschriebene Kandidatenliste der Sozialdemokratischen Partei in Telfs. Damals, am 16. November 1919, wurde der Gemeinderat erstmals durch eine allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahl bestimmt. Zuvor, während der Monarchie, hatte das Zensuswahlrecht gegolten: Nur männliche Bürger, die eine gewisse Steuerleistung nachweisen konnten, durften ihre Stimme abgeben. Das hieß, dass z. B. im 3000-Einwohner-Ort Telfs nur rund 300 wohlhabende Männer über die Gemeindevertretung entschieden. So überrascht es nicht, dass es in der Marktgemeinde bis 1919 nur bürgerliche und nationale Mandatare gab.
Die Wahl vom 16. November 1919, bei der erstmals alle erwachsenen Bürgerinnen und Bürger abstimmen durften, war für die Sozialdemokraten in der Textilarbeitergemeinde Telfs mit großen Erwartungen verbunden. Doch sie wurden enttäuscht. Konservative und bürgerliche Kreise betrieben, unterstützt von der Kirche, einen intensiven Wahlkampf, bei dem es ihnen gelang, vor allem viele der jetzt wahlberechtigten Frauen auf ihre Seite zu ziehen. Schließlich errangen die konservative Volkspartei elf, die mit ihnen verbündeten Deutschfreiheitlichen drei und die Sozialdemokraten sechs Mandate. Bei der konstituierenden Sitzung am 2. Dezember 1919 wählte der Gemeinderat den Volkspartei-Spitzenkandidaten Josef Gapp zum Bürgermeister. Erster Vizebürgermeister wurde der Deutschfreiheitliche Johann Schweigl, zweiter der Sozialdemokrat Michael Klotz.
14. Feber 2022 | von
Stefan Dietrich