Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Der 100-Jährige, der noch immer lachen kann

Heinrich Hattinger aus Imst feiert Geburtstag und erzählt aus einem Jahrhundert des Lebens

Zu feiern gäb’s ihn jedes Jahr: Doch ganz besonders sind aber immer jene Geburtstage, die ein Lebensalter rund machen. Wenn’s dann auch noch in den dreistelligen Bereich geht, ist’s freilich eine Sensation. So wie bei dem Imster Heinrich Hattinger, der am Samstag für den Übergang in ein zweites Lebensjahrhundert zu beglückwünschen war. Die RUNDSCHAU durfte ein, zwei Tage vor dem Jubeltag bei ihm zuhause vorbeischauen – und wurde freundlich empfangen.
19. Oktober 2021 | von Manuel Matt
Der 100-Jährige, der noch immer lachen kann
Heinrich Hattinger aus Imst, wenige Tage vor seinem 100. Geburtstag... RS-Foto: Matt
Von Manuel Matt

Wenn Heinrich Hattinger die Tür öffnet, die paar Stiegen hinauf- und in die gute Stube hineinbittet, dann sind’s zwei Eigenschaften, die den Imster ganz besonders auszeichnen: Herzlichkeit und Frohsinn. Dabei war der Welt, als der „Haggi“ einst 16. Oktober 1921 aus dem Ei geschlüpft ist, wohl alles andere als zum Lachen zumute: Kein Wunder, fast drei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, wo kein Stein auf dem anderen geblieben war. Eine harte Zeit sei’s gewesen, erzählt Heinrich, angesprochen auf seine ersten Erinnerungen. Nicht nur, aber wohl ganz besonders in Algund, in Südtirol, wo er aufgewachsen ist, das nun nicht mehr zur Donaumonarchie, sondern zum Königreich Italien gehörte, wo alsbald die Faschisten die Macht ergriffen. „Plötzlich waren wir die Ausländer“, sagt Heinrich bitter, Sohn einer Einheimischen und eines Vaters aus Salzburg: „Ich will nicht schimpfen, aber fein war’s nicht.“

GERAUBTE JUGEND. Gänzlich freudlos ist sie jedoch nicht gewesen, die Kindheit. Da war zum Beispiel das Ministrieren in der kleinen, aber für den kleinen Heinrich so unendlich groß wirkenden Kirche und auch das Erlernen des Radfahrens, was dem Haggi noch viel Freude bereiten wird. Damals noch auf dem Drahtesel vom Onkel Sepp, bevor das erste eigene Fahrrad auf Holzfelgen daherkam. Dann aber auch die Ausweisung des Vaters, die Entwurzelung der Familie, die sie in die Imster Oberstadt bringt – und der nächste, große Krieg. „Auf einmal waren wir wieder Deutsche“, erinnert sich Heinrich, „und mit nicht einmal 19 Jahre haben’s mich wie den Vater eingezogen.“ Drei Jahre lang gehört er so der Wehrmacht, wird zum Kämpfen gezwungen: Etwa im wüstenhaften Libyens, als Teil des Afrikafeldzugs. 

HENRY, THE GOOD BOY. Dem Himmel sei Dank, dass dort seine Geschichte nicht wie für viele andere endet: Doch wird Heinrich gefangen genommen, von den Briten – und landet über Umwege in den Vereinigten Staaten. Über die „Amis“ kommt ihm allerdings kein böses Wort über die Lippen. Im Gegenteil, denn an die Gefangenschaft denkt der Haggi tatsächlich gerne zurück: An den Süden, an Alabama, Georgia und Tennessee. „Die Amerikaner waren wirklich menschlich und haben uns behandelt wie ihre eigenen Leut’“, würdigt Heinrich, der hauptsächlich für die Arbeit im Sägewerk herangezogen worden sei. Denn das Pflücken von Baumwolle sei den Kriegsgefangenen erspart geblieben: „Die haben ja gesehen, dass das unsereins in der Hitze einfach nicht packt.“ Eine heitere Geschichte erzählt der Haggi übrigens besonders gerne: Jene, als er mit dem Lastwagen den Müll vom Gefangenenlager zur Deponie zu kutschieren hatte. Die ihn begleitenden Militärpolizisten (MP) hätten jedoch andere Pläne gehabt, wollten zu einer nahen Farm, zum gepflegten Rumtrinken in Zeiten der Prohibition. Da soll ein Gefangener noch Nein sagen: Besonders dann, wenn sternhagelvolle MPs ihn nach der Zecherei auffordern, sie nachhause zu fahren, um wenig später links und rechts vom Fahrer sanft zu schlummern. „Mein Gott, hab’ ich mich gefürchtet“, schmunzelt Haggi. Es kommt, wie’s kommen muss: Ein ziemlich erboster Captain hält den Laster an und schickt den Gefangenen wie auch die Aufpasser in die Barracken. „Was mit den MPs passiert ist, das weiß ich nicht“, sagt der Zentenar. Mit ihm rechnet der Captain ein paar Tage später ab: Mit einem Schulterklopfen und dem Urteil „You’re a very good boy!“

EIN ARBEITSAMES LEBEN. Brav dürfte er allemal gewesen sein, der Haggi, den die Amis 1947 heimgeschickt haben. Zumindest bekommt er von ihnen bis heute 20 Euro pro Monat für seine Dienste überwiesen. Eine komplette US-Armeeration schickt ihm später einmal der Bruder des Sägewerk-Inhabers – und so manchen Brief schreibt ihm eine hübsche Sekretärin, die den feschen Südtiroler nur ungern hat ziehen lassen. Bevor Heinrich aber wirklich heimkommen darf von Krieg und Gefangenschaft, wird er von den Amerikanern über Demokratie aufgeklärt und entnazifiziert – ihn, der da nicht einmal genau weiß, was denn ein Nazi überhaupt sein soll. Was aber auch noch folgt, sind finstere Tage des Elends als Gefangener in Frankreich. „Da haben wir die Hungerkur gemacht“, beweist er Galgenhumor angesichts der Misshandlung, die ihm ein langes Lungenleiden beschert. Das hat sich aber überwinden lassen – und der Haggi wird zum waschechten Imschter: Hier lernt er seine Frau Evi kennen, arbeitet als gelernter Friseur im legendären Sedlak-Salon und wandelt auf väterlichen Spuren als Dampfkesselwärter. Zuerst im Kraftwerk der Stapf-Fabrik, dann wird er von den Stadtwerken abgeworben. Zuerst in der Schlosserei im Einsatz, später als Stromkassier, der damals noch von Haus zu Haus tingelte, um die Zähler abzulesen. Spätestens so war der Haggi seinem Imst wohlbekannt – und geschätzt.

AUF ACHSE. Der Pensionskasse wird’s wohl die Sorgenfalten ins Gesicht gezaubert haben: Denn nach den ganzen Arbeitsjahrzehnten ist Haggi schon ziemlich lange in der Pension. „Das wird wohl so um 1986 gewesen sein“, grinst der Hundertjährige. Dem Alter hat er ein Schnippchen geschlagen: Mit Sport, am liebsten auf dem Rad, auf dem Weg nach Strad und Nassereith oder nach Mils, entlang des Inns. Unversucht hat der Haggi nichts gelassen, weder Mountain- noch E-Bike. Von letzterer Art habe er zwei besessen: Das erste E-Rad durfte mit rund 7000 Kilometern auf dem Tacho in den Ruhestand, das zweite erst mit 9000 Kilometern. „Das war schon fein“, schwärmt Haggi, der 2019 der älteste Teilnehmer beim Tiroler Fahrradwettbewerb war und auch heute noch so rumkurven würde. Wäre da nicht ein Zwischenfall mit einem Auto gewesen, wo ihn keine Schuld getroffen hat, und dann noch ein Unfall beim Schrauben. Da hat er sich den Oberschenkel gebrochen, die schwere Operation überstanden und sich flugs in den Alltag zurückgekämpft. Flott unterwegs ist er aber immer noch, nun eben auf einem dreirädrigen Elektromobil: Zum Einkaufen oder zu einem Abstecher bei der lieben Verwandtschaft. 

VOLL INFORMIERT. Ein extremer Sportler sei er nie gewesen, auch nicht beim Skifahren mit dem Trauner Franz. Alles eben mit Maß und Ziel, was vielleicht auch ein Geheimnis ist für ein langes Leben. Ob’s denn sonst noch Leidenschaften gegeben habe, abseits vom Sport? „Oooh, Rauschgift, moansch?“, kauft da der Haggi der RUNDSCHAU gleich humorvoll den Schneid ab. Eine tatsächliche Passion sei aber immer das Basteln gewesen: Spielzeuge für die Kleinen etwa, die Hilfe beim „Schnutes Hammer“-Fåsnåchtswagen von 1970 oder ganz aktuell raffinierte Modifikationen an seinem E-Mobil, damit der Gehstock bei Ankunft gleich zur Hand ist. Ist er daheim, wäscht der Haggi seine Wäsche immer noch selbst, feuert selbst den Ofen an und hält die grauen Zellen fit mit Denksport, wobei’s wohl kein Kreuzworträtsel gibt, dem er nicht das Fürchten lehrt. Fixpunkt sind die abendlichen Fernsehnachrichten, um ja auf dem Laufenden zu bleiben. Was er denn so von den Ermittlungen rund um den neuerlichen Ex-Kanzler halte? „Mei, die Regierung, immer die Gleichen“, winkt Haggi ab. Allesamt Spitzbuben, oder? „Des kannsch laut sagen“, gibt er lachend zurück. Ja, bei so viel Weisheit muss es einfach sein: Gibt’s eine Lektion für Jungspunde wie den Verfasser dieser Zeilen? Sowieso: „Nicht so lange Interviews führen!“ Deshalb lassen wir’s jetzt auch gut sein. Nur eines noch: Alles Gute – und noch viele schöne Jahre voller Leben!
Der 100-Jährige, der noch immer lachen kann
... und hier ein paar Jahrzehnte vorher, mit seinen Neffen Ulrich (l.) und Josef Gstrein (r.).Foto: Privat

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