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„Martinsbühel“-Abschlussbericht liegt vor

Gewalt stand an der Tagesordnung: Bischof Hermann Glettler spricht von einem pädagogischen Totalversagen

Nach zweijähriger Forschungstätigkeit des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Wissenschaftsbüros Innsbruck liegt jetzt der Abschlussbericht „Demut lernen. Kindheit in konfessionellen Kinderheimen in Tirol nach 1945“ vor. Verfasst wurde der Bericht im Auftrag der so genannten „Dreierkommission Martinsbühel“, die im Jahr 2019 vom Land Tirol, der Diözese Innsbruck sowie den Vertretern der Ordensgemeinschaften eingesetzt wurde.
12. Dezember 2022 | von Gebi G. Schnöll
„Martinsbühel“-Abschlussbericht liegt vor
Die unabhängige Expertenkommission ist zu einem erschreckenden Ergebnis gekommen. Hinter den Mauern von „Martinsbühel“ herrschte eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre. RS-Foto: Archiv/Schnöll
Von Gebi G. Schnöll

Ziel war und ist, dass die unabhängige Expertenkommission die Vorkommnisse rund um das Kinderheim Martinsbühel und in anderen ehemaligen Tiroler Heimen aufarbeitet – vor allem bezogen auf die strukturellen Hintergründe. „Im Zuge der Aufarbeitung wurde festgestellt, dass Bedarf für eine Untersuchung weiterer Einrichtungen besteht. Aus diesem Grund haben wir das Forschungsprojekt auf weitere kirchliche Heime in Tirol nach 1945 ausgeweitet“, erinnert die Vorsitzende der Dreierkommission, Margret Aull. Konkret wurden die Heime „Martinsbühel“, „Scharnitz“, das „Josefinum“ in Volders, die „Bubenburg“ in Fügen, das „St. Josefsheim“ in Mils b. Hall, das Heim „Thurnfeld“ in Hall und das „Elisabethinum“ in Axams untersucht.

Lokalaugenschein. Nach einem öffentlichen Aufruf, der von den projektverantwortlichen Zeithistorikern Ina Friedmann (Wissenschaftsbüro Innsbruck) und Friedrich Stepanek (Universität Innsbruck) initiiert wurde, konnten 75 Personen interviewt werden. Sie lebten entweder als Kinder bzw. Jugendliche in einer der obgenannten Einrichtungen oder haben sich als Zeitzeugen gemeldet, weil sie dort gearbeitet hatten oder in anderer Weise Auskunft geben konnten und wollten. Darüber hinaus kam es im Herbst 2020 zu einem Lokalaugenschein in „Martinsbühel“, im Zuge dessen Vertretern der Dreierkommission, der wissenschaftlichen Leitung sowie der Kirche von einer in „Martinsbühel“ als Kind bzw. Jugendliche jahrelang untergebrachten Frau durch die Räume und das Gelände geführt wurden. Nicht zuletzt wurde von der Wissenschaft auch das relevante Archivmaterial erhoben. Dieses war jedoch nur fragmentarisch vorhanden: Skartierungen in früheren Jahrzehnten und der unklare Verbleib von unterschiedlichen Aktenbeständen beschränkten die Forschungsmöglichkeiten. Zudem war die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Mutterkloster der Benediktinerinnen von Scharnitz sehr schwierig. Abgesehen davon könne laut wissenschaftlicher Leitung aber von einer konstruktiven Zusammenarbeit mit allen – kirchlichen wie öffentlichen – Stellen berichtet werden.

Wesentliche Erkenntnis des Abschlussberichtes. Im Sinne der Untersuchung von Vorkommnissen der Gewalt vor allem mit dem Blick auf strukturelle Zusammenhänge und Formen innerhalb dieses Forschungsauftrages wurde der Fokus auf die Lebens- und Arbeitsrealitäten in den untersuchten Einrichtungen gelegt. „Es wird aufgezeigt, dass die Strukturen in den Heimen verschränkt mit den strukturellen Bedingungen von außen – dem Land, der Kirche –, aber auch der Interaktion von Ordensschwestern und deren Übergeordneten Auswirkungen auf die Heimkinder hatten“, hält Kommissionsvorsitzende Margret Aull fest. Die Schilderungen in den durchgeführten Interviews würden zeigen, dass die Ordensangehörigen von den schutzbefohlenen Kindern stets Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangt hatten. Weder die fehlende erzieherische Ausbildung der damaligen Ordensfrauen noch die Gruppengröße – in „Martinsbühel“ musste etwa eine Schwester in den 1970er-Jahren bis zu 50 Mädchen betreuen – war für die Kinder und deren Bedürfnisse förderlich. „Die Schilderungen der Interviewpartner machten uns deutlich, dass eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre vorherrschte“, so Aull. Die Diözese Innsbruck und das Land Tirol sind sich bei der Aufarbeitung des Abschlussberichtes einig, dass nichts vertuscht und verharmlost werden darf – im Gegenteil: „Die teils erschütternden Berichte zeigen pädagogisches Totalversagen – das gilt für kirchliche und staatliche Einrichtungen“, so Bischof Glettler.
 

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