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Was wäre, wenn

Volksschauspiele Vorpremiere von „Türkisch Gold“ im Meinhardinum

Der inoffizielle Startschuss für die Tiroler Volksschauspiele 2021 fiel vor drei Oberstufenklassen im Meinhardinum – und hätte damit nicht idealer gewählt sein können. Das Stück „Türkisch Gold“ erzählt von zwei 16-Jährigen und der komplizierten ersten Liebe, die Gleichaltrigen im Publikum wissen also genau, wovon die Rede ist.
5. Juli 2021 | von Lia Buchner
Was wäre, wenn<br />
Gemeinsam tanzen als Kommunikationsmittel: Die Inszenierung von Ebru Tartıcı Borchers setzt auf Körpersprache. RS-Fotos: Buchner
Von Lia Buchner

Die fünften und sechsten Klassen sitzen im Gymnastiksaal des Meinhardinums auf Stühlen, Matten oder Turngeräten. Der gestrige Fußballabend wird diskutiert, ein Theaterstück am Morgen fühlt sich ein bisschen an wie schulfrei. Als es dann losgeht, kommt gleich gute Stimmung auf, die beiden Schauspieler tanzen zu lauter Musik erstmal ordentlich ab. Jonas und Luiza sind beste Freunde, haben sich eine Ferienwoche lang nicht gesehen und sind voller Neuigkeiten.  Die Topneuigkeit hat Jonas: er hat sich verknallt, in Aynur, ein türkischstämmiges Mädchen aus Luizas Parallelklasse. Und schon ist die gute Laune raus, Luiza findet das gelinde gesagt doof, weil - ja, warum genau? Da kommen erstmal jede Menge Klischees, die düsteren von Luiza, die rosaroten von Jonas. Grenzenlose orientalische Gastfreundschaft gegen finsteren Ehrenmord. Dann wird es subtiler, die beiden spielen sich in die Reaktionen der Anderen hinein, ein reizvolles Was-wäre-wenn-Spiel beginnt. Was wäre, wenn es die Freunde an der Schule wüssten, oder Aynurs Bruder, oder Jonas‘ Vater? Wenn es alle wüssten? „We are the world“ gegen „Ich poste den ganzen Tag Hakenkreuze im Internet“ gegen „Ich bin Türke, ich darf dich schlagen“. Was wäre, wenn Aynur sich auch verliebt hätte, wenn sie mit Jonas gehen wollte, was wäre, wenn er dann nein sagte, weil er keinen Bock auf den ganzen Stress hat. 

Kai Götting als Jonas und Luiza Monteiro als Luiza spielen furios mit dem Rollenwechsel. Mit minimalen Mitteln, einer anderen Stimmlage, einer veränderten Körperspannung schlüpfen sie in andere Figuren, Monteiro ist Luiza, ist Aynur, ist auch deren Bruder mit seinem unterstellten Machismo, und all das darf sie, weil sie Luiza ist und irgendwie auch in Jonas verliebt. Beide spielen mit unerhörter Wachheit präzise auf den Punkt, jeder Einsatz passt, jeder Rollenwechsel ist mit einem Fingerschnippen da. Es ist die reine Freude, ihnen dabei zuzusehen.Ebru Tartıcı Borchers hat mit dieser österreichischen Erstaufführung eine temporeiche, immer wieder sehr witzige Inszenierung vorgelegt. Sie erzählt viel mit dem Körper, mit Bewegung, die Tanzszenen sind keine Lücken in der Handlung, sie erzählen nonverbal vielleicht am meisten. Improvisierte Szenen wechseln mit sorgfältig gebauten Dialogen, die aber nie gestelzt oder gar belehrend daherkommen. Die jungen Leute reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, mit viel „und so“ und „keine Ahnung“. Dabei entsteht ein sehr klares Funktionsmuster von Klischees, von Vorurteilen, die im Prinzip alle von allen haben. Der herablassend in Gastarbeiter-Deutsch sprechende Vater von Jonas zum Beispiel lebt sein Vorurteil über die nicht deutschsprechende Türkin und wird dabei selbst zum Klischee. Immer wieder fühlt man sich ein wenig ertappt, notfalls bei einem selbstgerechten „ich doch nicht“.

„Wir haben bei den Proben ganz viel über Vorurteile diskutiert, erzählt Ebru Tartıcı Borchers. „Es war uns wichtig, die Dinge wirklich auszusprechen, aber auch immer wieder ein Gegenbild zu entwerfen. Wir sind ein sehr internationales Team, ich bin Türkin, Luiza ist in Brasilien aufgewachsen, Kai ist Deutscher, die Ausstatterin Hanna Schmaderer kommt aus Schweden. Das war wichtig für die Arbeit, denn wir waren überrascht, dass jedem ein anderes Klischee wehtut, was ein Kulturfremder so vielleicht gar nicht merkt.“ In der anschließenden Diskussion sprechen die Schülerinnen und Schüler weitere spannende Aspekte an. Vielen brennt die Figur von Jonas‘ Vater unter den Nägeln. „In seiner Reaktion erkenne ich eher ein deutsches Klischee“, überlegt eine Schülerin. „Ich denke, dass die junge Generation viel entspannter mit kulturellen Unterschieden umgeht“, meint ein Anderer. „Wir haben vielleicht mehr Stereotype über die Deutschen im Kopf, als über Türken“, ergänzt jemand. 
Die Produktion „Türkisch Gold“ mit ihren beiden wunderbaren Darstellern spielt noch fünf Mal vor Schülern, bevor die öffentliche Premiere am 23. Juli um 20 Uhr im kleinen Rathaussaal stattfindet. Sechs Vorstellungen bis 28. Juli 2021, Tickets unter www.volksschauspiele.at.
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Rollenwechsel: Luiza Monteiro und Kai Götting gelingt auch die Gang-Gestik von Aynurs Bruder treffsicher.
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„Nationale Klischees eher über die Deutschen“: Im Nachgespräch mit Regie und Darstellern gibt es viel Lob und spannende Gedanken der Schülerinnen und Schüler. Ebru Tartıcı Borchers, Kai Götting, Liuza Montiero (v.l.).

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