Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Gletscher und Glaube – beten gegen die Gefahr

30. April 2019 | von Nina Zacke
Der Rofener Eissee am 16. August 1772, Kupferstich, Darstellung in Joseph Walchers „Nachrichten von den Eisbergen im Tyrol“ von 1773. Foto: Archiv des Tiroler Landesmuseums
Mag. Dr. Franz Jäger im Turmmuseum in Oetz. Der Vortrag „Gletscher und Glaube“ bildete die Auftaktveranstaltung zur Reihe „Freitags im Museum“. RS-Foto: Hirsch

„Freitags im Museum“ startete mit einem Vortrag von Franz Jäger


Franz Jäger gab im Turmmuseum in Oetz tiefe Einblicke in die Gedankenwelt der Menschen während der letzten drei Jahrhunderte. Die mystischen und religiösen Vorstellungen der Menschen von Damals waren Dreh- und Angelpunkt seines Vortrags über „Gletscher und Glauben“. Mit Franz Jäger begaben sich die Zuhörer auf die Spuren der Katastrophenbewältigung einst und heute.


Von Friederike Hirsch


Spannend und kurzweilig war der Abend im Turmmuseum in Oetz. Draußen regnete es und der Nebel hang tief. Die perfekte Stimmung für einen Vortrag zum Thema Naturgewalten. Immer wieder wurde das Ötztal von Naturkatastrophen heimgesucht. Die Gletscher, die Berge, die Gewässer und die Ötztaler Ache ließen die Menschen einst und heute nicht zur Ruhe kommen. Franz Jäger hat sich auf Spurensuche begeben. Welche Strategien haben die Leute entwickelt, wie haben sie sich die Gewalt der Natur erklärt und wie versuchten sie, das Unheil abzuwenden? Eine spannende Reise durch 400 Jahre Glauben versus Wissenschaft.



Die kleine Eiszeit

Die „Kleine Eiszeit“ sorgte in den Alpen für Gletschervorstöße, Muren, Überschwemmungen und Lawinen. Schutzlos waren die Menschen in den Tälern diesen Gewalten ausgesetzt. Wo einst fruchtbare Wiesen waren, war plötzlich Eis und Schnee. Ganze Täler sperrte der Gletscher ab und staute Gewässer auf, die dann die Täler überfluteten. Im Ötztal sorgte vor allem der Vernagtferner für Gletscherseeausbrüche, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert im Ötztal gefürchtet waren. So ist es nicht verwunderlich, dass er Vernagtferner der historisch wohl am besten dokumentierte Gletscher der Ostalpen ist. Der damals wild zerrissene Vernagtferner erreichte das Rofener Tal, staute sich an der gegenüberliegenden Felswand, der Zwerchwand, auf. Die Rofener Ache wurde dadurch mit einem eisigen Damm abgesperrt. Hinter diesem Damm aus Eis bildete sich ein Stausee von bis zu 1,5 Kilometern Länge, der Rofener Eissee. Manchmal aber bahnte sich das Wasser unter dem Eis einen Weg, erweiterte diesen und sprengte schließlich den Eisdamm, sodass in kürzester Zeit eine eisige Flutwelle das Venter und Ötztal verwüstete und sogar noch das Inntal überschwemmte. Die erwähnten plötzlichen Ausbrüche des Eissees sind vor allem auf Grund der Aufzeichnungen in der Längenfelder Gemeindechronik gut dokumentiert, erstmals für die Jahre 1600/1601. Ein Jahr nach einem weiteren Ausbruch von 1771 hat Joseph Walcher, Mechaniklehrer und Mathematikprofessor in Wien, den Vernagtferner besucht und die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Ötztaler Gletscher verfasst. Darin schrieb er auch, was bei drohender Gefahr in welcher Abfolge zu tun sei: „Beten, den Bach räumen, die Hölzer vom Ufer entfernen.“




Mag. Dr. Franz Jäger im Turmmuseum in Oetz. Der Vortrag „Gletscher und Glaube“ bildete die Auftaktveranstaltung zur Reihe „Freitags im Museum“. RS-Foto: Hirsch

Beten, beten und nochmals beten

Immer wieder erreichten die Ausbrüche katastrophale Ausmaße. Sie verursachten zudem Ernteausfälle und damit zahlreiche Hungeropfer. Die Verzweiflung und Machtlosigkeit führte zu einer Volksfrömmigkeit. Die Menschen hatten nur eine Erklärung für diese Naturgewalten: Es musste eine Strafe Gottes sein. Die Natur wurde damals als durchgeistigt empfunden, der Gletscher als Dämon. Den Gletscher erklärte man sich als lebendiges Wesen, als das „Böse“. Er wurde aber auch als Ort gesehen, in dem die armen Seelen eingesperrt waren. Ein kaltes, nasses, dunkles Fegefeuer. Pilger und Wanderer gingen vorsichtig über den Gletscher, damit sie „die armen Seelen nicht verletzten“. Man wusste sich nicht anders zu helfen, als Gott zu bitten, er möge doch das Böse, den Gletscher, von den Menschen fernhalten. Gebete, Prozessionen und Anrufungen waren an der Tagesordnung. Die Kirche rief das ganze Inntal zu Bittgängen auf, damit Gott „von weiteren Strafen ablassen möge“. Es wurden sogar reine Kinderprozessionen abgehalten, da man überzeugt war, dass Gott die Kinder eher erhören würde. Nach der großen Überflutung 1845 begann die Kirche, den Gletscher selbst zu beschwören und zu bannen. Messen wurden am Gletscher abgehalten, geweihte Dinge in den Gletscher geworfen, um „um allergnädigste Abwendung“ zu bitten. Gelöbnisse wurde verfasst und Generationen verpflichtet, sich daran zu halten.



Heutige Strategien

Das Verhältnis Mensch und Natur hat sich drastisch verändert. Wir glauben heute, dass wir die wilde Natur zähmen können. Heute muss der Mensch nicht mehr vor der Natur geschützt werden, sondern die Natur vor dem Menschen. Der Schwund der Gletscher, nicht der Vorstoß, ist Thema. Heute sind die Gletscher keine Dämonen mehr, sondern Wohlstandsbringer. Ereignen sich Katastrophen, dann ist nicht mehr die Gemeinschaft „schuld“, sondern der Einzelne. Die „Straftheologie“ heute sucht den einen Sündenbock. Das Jahrhunderte alte Erfahrungswissen weicht der vermeintlich genauen wissenschaftlichen Erkenntnis. Dennoch oder gerade deshalb sind die Vorstellungen einer beseelten Natur auf dem Vormarsch. Gelöbnisse von anno dazumal sind auch in modernen Zeiten noch aktuell. Das „Fischbachgelöbnis“ in Längenfeld wurde 1989 in leicht abgeänderter Form erneuert.

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