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Griaß enk aus … Krakau in Polen

„Griaß enk aus …“ ist eine RUNDSCHAU-Serie, in der „Auslandslandecker“ zu Wort kommen. In ihren „Briefen“ ermöglichen sie Lesern einen Blick auf das Leben in einem manchmal sehr weit entfernten Teil der Welt. Viel Freude beim Lesen, sich Erinnern, falls Sie den Absender kennen, und Neues Erfahren. Diesmal schreibt die Zammerin Marlis Lami aus Krakau in Polen.
3. April 2024 | von Daniel Haueis
Griaß enk aus … Krakau in Polen
Marlis Lami Foto: Petra Lutnyk
Wie ich nach Krakau gekommen bin? Es war wohl die Sprache. Das erste polnische Wort hörte ich im Sommer 1985 im damaligen Leningrad. Studienkollegen aus der französischen Schweiz, die zuvor in Polen gewesen waren, wechselten spaßeshalber einige Sätze auf Polnisch: „Krakau ist schöner als Warschau“. Dabei mischten sie Russisch ins Polnische und das hat mich empört, als ob der Sprache, die ich ja gar nicht kannte, Gewalt angetan würde. Gleich nach der Rückkehr aus der Sowjetunion nach Bern, wo ich damals Altgriechisch und Russisch studierte, gab es wundersamerweise den ersten Polnisch-Kurs an meinem Institut. Gelernt habe ich die Sprache aber viel mehr in der Küche meiner Lehrerin und Freundin Jolanta und in Berns Gasthäusern, wo sich nach dem Unterricht aus Polen stammende Kollegen über Gott und die Welt und die Zukunft des Landes stritten.
Zum ersten Mal sah ich den Krakauer Marktplatz am Ostermorgen des Jahres 1987. Damals war der größte quadratische Platz Europas (200 mal 200 m) noch nicht von den Tischen der unzähligen Straßencafés und Restaurants verstellt, für die die Stadt inzwischen berühmt ist – Reiseführer preisen „die höchste Kneipendichte“ von allen europäischen Städten. Noch heute überrascht mich, wenn ich aus einer der Seitengassen auf den Platz trete, jedes Mal wieder die Schönheit dieser „Piazza“. Krakau ist eine Renaissancestadt und hat wie viele italienische Städte Maß am Menschen genommen: Im Zentrum ist alles mühelos fußläufig erreichbar und das Gassengeflecht hat sich seit Jahrhunderten kaum verändert. Die Altstadt fühlt sich an wie eine zweite Haut oder ein perfekt anliegendes Gewand. Mein Arbeitsweg gehört zu den schönsten, die man in Europa haben kann. Er führt am Collegium Novum vorbei, dem Hauptgebäude der Universität, wo mir in den 1980ern das Stipendium und in den 1990ern der Gehalt bar ausbezahlt wurde, weiter über den südlichen Teil des Marktplatzes mit Blick auf die Tuchhallen und die Marienkirche im Hintergrund (vgl. Foto), hinein in die Burggasse, den alten Krönungsweg der polnischen Könige. Das Institut für Religionswissenschaft der Jagiellonen Universität (gegründet 1364) befindet sich im ehemaligen Kollegium der Jesuiten. Wenn das Gebäude nicht gerade renoviert wird und hinter Baugerüsten verschwindet, sieht man während des Unterrichts an jeder Seite auf eine der prachtvollen Kirchen der Stadt.

Was mir in Krakau gefehlt hat? Auf diese Frage fiel mir lange Zeit keine Antwort ein. Anfangs war das die Nähe zu Italien und zum Meer, denn an die polnische Ostsee war es damals noch eine sehr lange Reise. Inzwischen stürmen ja auch die Polen jeden Sommer an die kroatische Küste, wie die Tiroler an den Gardasee und die Wiener nach Grado – eine der wenigen Vorlieben, die ich nie übernommen habe. Wenn schon Italien, dann richtig tief in den Süden. Und auch dort stellte sich die Buchhändlerin und Verlegerin, mit der ich mich angefreundet habe, als gebürtige Polin heraus.

Was in Polen anders ist? Vor allem ist das die Geschichte und die Folge von Umbrüchen, die den Polen seit Jahrhunderten abverlangt werden. Nur ein Teil davon fällt in meine Zeit hier: das Ende der Volksrepublik mit dem inzwischen berühmten „runden Tisch“ und den ersten (fast) freien Wahlen – die friedliche Revolution im „annus mirabilis“ 1989; dann die verrückten 1990er-Jahre, als das Land sich regelrecht überschlug –, da war ich bereits Lektorin am Institut für Germanistik der Jagiellonen Universität und am österreichischen Konsulat. Die Deutschkurse des Österreich Instituts, das ich daraufhin leitete, boomten. ­Schier jede Woche entstand eine Projektidee für den österreich-polnischen Austausch von AutorInnen, WissenschaftlerInnen oder KünstlerInnen. Den Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004 habe ich von Zürich aus begleitet – damals verantwortlich für die Kulturarbeit der Schweiz in und mit den Višegrad-Ländern (neben Polen: Ungarn, Tschechien und die Slowakei). Aus diesem Anlass durfte ich mein Lieblingsprojekt umsetzen: knapp 100 Veranstaltungen zu Mitteleuropa in der gesamten Schweiz. Die Weitung des Blicks auf Polen, die Perspektive aus der ferneren Schweiz und das Einbeziehen der gesamten Region scheint mir heute noch wertvoll und sogar notwendig, um Polen zu verstehen. Es ließ mich Krakau wieder neu entdecken.
Nicht zuletzt kamen damals auch ukrainische SchriftstellerInnen in die Schweiz, die ich von Polen her kannte. Als ich im Jahr 2014 wieder zurück in Krakau war, lebte nach Schätzungen bereits eine Million UkrainerInnen im Land. Seit dem 24. Februar 2022 hört man ihre Sprache an jedem Eck – ähnlich wie das Polnische in Wien, wo ich immer mehr lebe und es immer besser sogar ohne eigene Bleibe in Krakau aushalten kann. Wenn ich nach Zams komme, eher selten, beneide ich meine Freundinnen bisweilen darum, wie wenig sich ändert. Man lebt im Gefühl der Sicherheit ein – im Vergleich zu Polen – bequemes und ruhiges Leben in Wohlstand. 

Die Beziehung zu einer Sprache gleicht einer Liebesgeschichte, von der ersten „schicksalhaften“ Begegnung (das erste Wort), dem euphorischen Verlieben, dann Vertrautwerden über Jahre und Jahrzehnte, mit Distanzieren und erneutem Annähern, fallweise auch Ernüchterung, bis hin zu immer wieder aufflammender Begeisterung. Sie bedeutet aber auch Mühe, Geduld und ständiges Arbeiten, oft anstrengend und lästig im Alltag. Mein Traum war immer: alle Sprachen zugleich.
Je länger ich die Stadt kenne und je mehr ich über das Land weiß, desto unmöglicher scheint mir die Vermittlung zwischen „Ost“ und „West“. Wie ein Scheidungskind (das ich ja bin) höre ich beide Seiten, weiß, was die eine meint, doch die andere nicht versteht, und kann beobachten, wie man aneinander vorbeiredet. Das Gefühl, hilflos zusehen zu müssen, wie zwei nicht zueinander finden – das ist der Preis für ein Leben in mehr als einer Welt.

Marlis Lami
Griaß enk aus … Krakau in Polen
Marlis Lami vor dem Institut für Religionswissenschaft der Jagiellonen Universität im Collegium Broscianum Foto: Marlis Lami
Griaß enk aus … Krakau in Polen
Blick vom Rathausturm auf den Marktplatz mit den Tuchhallen Foto: Marlis Lami
Griaß enk aus … Krakau in Polen
Marlis Lami Foto: Petra Lutnyk

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