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Naturkatastrophe in Zeitlupe

Kein Strafverfahren wegen Corona-Ausbreitung im März 2020

In Sachen Corona-Ausbreitung im Frühjahr 2020 in Ischgl kommt es zu keiner Anklage: „Es gibt keine Beweise dafür, dass jemand schuldhaft etwas getan oder unterlassen hätte, das zu einer Erhöhung der Ansteckungsgefahr geführt hätte“, lautet das Ergebnis der Staatsanwaltschaft Innsbruck.
29. November 2021 | von Daniel Haueis
Naturkatastrophe in Zeitlupe<br />
Ischgl stand Anfang/Mitte März 2020 im Mittelpunkt der Corona-Maßnahmen in Tirol – danach ging’s überall so richtig los, und zwar weltweit. RS-Foto: Archiv
Von Daniel Haueis

Am Beginn des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens stand eine Strafanzeige vom 23. März 2020, also gut eine Woche nach Beendigung der Wintersaison. Das Land habe nicht angemessen reagiert, so der Vorwurf. Weitere Anzeigen und Sachverhaltsdarstellungen, die sich mitunter nur auf Medienberichte bezogen, folgten. Der Akt der Staatsanwaltschaft umfasst 15000 Seiten Protokolle, Berichte und anderes Beweismaterial. 27 Personen wurden vernommen, auch die Erkenntnisse der vom Land Tirol eingesetzten Experten-Kommission wurden berücksichtigt. Im Ermittlungsverfahren wurden zuletzt fünf Personen als Beschuldigte geführt. Nun, mehr als eineinhalb Jahre später und nach Kontrolle von Oberbehörden der Staatsanwaltschaft in Innsbruck und Wien, steht fest: Strafrechtlich ist den Betroffenen nichts vorzuwerfen. Der entscheidende Satz der Staatsanwaltschaft Innsbruck: „Unter Berücksichtigung aller dargestellten Erwägungen und des Umstandes, dass für die Entscheidungsträger eine präzedenzlose Situation mit großen Unsicherheiten vorlag, und schließlich die Corona-Pandemie, … eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe stattfindet, darstellt, war das gegenständliche Ermittlungsverfahren … einzustellen.“

VORWÜRFE ENTKRÄFTET. Der Vorwurf, dass Ischgl noch ein Wochenende „mitnehmen“ wollte, ehe das Tal gesperrt wird, war allein schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Gäste vor Bekanntwerden oder innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden der ersten Infektion in Ischgl (der angebliche Barkeeper) angereist sind. Nachvollziehbar waren auch die Landesaussendungen, die die bekannt gewordenen infizierten Isländer (Ansteckung im Flugzeug) oder das „Kitzloch“ („Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“) betrafen. „Diese medizinische Einschätzung ist jedoch unter Berücksichtigung der Ausführungen von … anlässlich ihrer Befragung vertretbar“, sagt die Staatsanwaltschaft. Die Verordnung, mit der die Saison beendet wurde, führte ebenfalls zu keinem Verfahren: „Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass nicht festgestellt werden kann, von wem konkret und aufgrund welcher, der Bezirkshauptmannschaft offenbar auch gar nicht kommunizierter Überlegungen die Abänderung des ursprünglichen Entwurfs veranlasst wurde.“ Auch Vertuschungsvorwürfe konnten nicht bestätigt werden – es „wurde vielmehr auf sämtliche Hinweise reagiert und waren alle relevanten Vorfälle nicht nur zeitnah bekannt, sondern … auch Gegenstand von Presseaussendungen“. Es ergaben sich auch keine Hinweise auf Beeinflussung der Öffentlichkeitsarbeit. Zudem waren Vorwürfe, wie z.B. die Ausreise der Touristen am Wochenende vor dem 15. März, ohne sie getestet zu haben, „strafrechtlich nicht zu fassen“ – anders ausgedrückt: Damals standen Testkapazitäten für solche Massen in Tirol nicht zur Verfügung. Kritisiert wird, dass vor Verkündung der Maßnahmen die Vorarbeiten nicht sichergestellt waren – dies sei „grundsätzlich als entscheidendes Versäumnis anzusehen. Allerdings kann dieses Versäumnis angesichts der Dynamik der Situation und des Zeitdrucks keiner der handelnden Personen angelastet und vorgeworfen werden“. Insgesamt also: Das Ermittlungsverfahren war einzustellen.

REAKTIONEN. „Gott sei Dank“, sagt Bgm. Werner Kurz, sei nun klar festgestellt worden, dass die Vorwürfe nicht haltbar waren. „Beschuldigt sein ist nicht ganz angenehm“, erklärt der Dorfchef. Er war der einzige Politiker unter den Beschuldigten – die übrigen sind Landesmitarbeiter. BH Markus Maaß betont via Anwalt: „In der Bezirkshauptmannschaft Landeck wurde von Anfang mit äußerster Kraftanstrengung und zeitnah daran gearbeitet, die sich täglich, ja teilweise stündlich ändernde Situation zu bewältigen. Die Entscheidungen mussten der besonderen Dynamik des Pandemiegeschehens sehr rasch angepasst werden. Es mussten auch zahlreiche freiheitsbeschränkende Maßnahmen erlassen werden, die bis dahin nicht vorstellbar waren …“ Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwaltschaft, Justizministerium und Weisungsrat seien alle übereinstimmend zum Ergebnis gelangt, dass die Vorwürfe gegen meinen Mandanten falsch sind, sagt Maaß’ Rechtsanwalt Dr. Hubert Stanglechner: „Es gibt keinen Grund, der Jus-tiz zu misstrauen.“



Peter Kolba stellt Fortführungsantrag

„Wir halten diese Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens für falsch und werden zunächst eine Begründung verlangen und nach Prüfung dieser Begründung gegebenenfalls fristgerecht einen Fortführungsantrag einbringen“, sagt Peter Kolba, Obmann des Verbraucherschutzvereines (VSV). Die Staatsanwaltschaft Innsbruck habe Fehler auf Ebene der Bundesregierung bisher offenbar überhaupt nicht berücksichtigt. „Es wäre daher sinnvoll gewesen“, so Kolba, „die Ermittlungen auch auf Ex-Bundeskanzler Kurz, Ex-Gesundheitsminister Anschober, Innenminister Nehammer und die in diesen Ministerien jeweils verantwortlichen Beamten sowie Landeshauptmann Platter auszudehnen.“ Gerade zu der überstürzten und chaotischen Abreise tausender Gäste am 13. März, die durch die Erklärung des unzuständigen Ex-Bundeskanzlers Kurz ausgelöst wurde und tausende Infektionen verursacht habe, gebe es wenige schriftliche Unterlagen. Daher müsste man zu den Umständen, wie es zu diesem Abreisechaos kam, die damaligen Mitglieder der Bundesregierung unter Wahrheitspflicht als Zeugen hören. „Der VSV wird aber alles in seiner Macht Stehende tun, um das Multiorganversagen der Behörden im Fall Ischgl sowohl im Rahmen der vom VSV unterstützten, beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien anhängigen Amtshaftungsklagen als auch im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Innsbruck aufzudecken.“

VERFAHREN VERSCHOBEN. Inzwischen wurden weitere „Ischgl-Verhandlungen“ wegen der Pandemie vertagt – die nächste mündliche Tagsatzung war für den 1. Dezember beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien anberaumt, sie findet nun am 14. März 2022 statt. „Diese Verschiebungen sind nicht nachvollziehbar“, sagt Kolba – eine solche Formal-Verhandlung könne in Pandemie-Zeiten auch über Online-Plattformen abgehalten werden, ärgert sich der Obmann des Verbraucherschutzvereines (VSV). „Wir werden daher nun – statt der Verschiebung – Verhandlungen via Online-Plattform beantragen.“ Bislang ist beim VSV auch keines der angekündigten Urteile eingelangt. Das Vorgehen der Justiz in Sachen „Ischgl“ sei für die Menschen, die sich im März 2020 mit dem Coronavirus infizierten, sehr enttäuschend, kritisiert Kolba.
 

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