Eine Wanderung vom Hahnenkamm zur Roten Flüh
„Willst Du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“, erkannte einst schon Goethe. Im Außerfern liegt nicht zuletzt das Schöne so nah. Vor allem in den Bergen. Die RUNDSCHAU war für ihre Leser unterwegs – und traf dabei auf einen verwaisten Garten, einen akrobatischen Pfarrer und funkelndes Gestein.
Von Jürgen Gerrmann
Es gibt Schicksalsberge. Nicht nur in J.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, sondern auch im realen Leben. Zuweilen werden schlimme Ereignisse damit verbunden – wie am Nanga Parbat, der als „Schicksalsberg der Deutschen“ gilt, weil dort in den 30er Jahren fast die gesamte deutsche Bergsteiger-Elite ums Leben kam.
Aber es gibt auch positive Schicksalsberge. Wie für mich die Rote Flüh. Noch heute habe ich die Szene von vor 60 Jahren vor Augen, als ich mit meinem Vater dort hochkraxelte und mir kleinem Bub mulmig wurde. „Hab keine Angst“, sagte er kurz vor dem Gipfel zu mir: „Ich steh hinter dir!“ Ein Wort, das mir Sicherheit gab. Weit über die Bergtour, weit übers Bergwandern hinaus. Es wurde zu einer Botschaft fürs Leben.
Ja, und die Rote Flüh war auch der erste Gipfel, auf dem ich gemeinsam mit meiner Frau stand. Insofern ist sie sogar ein doppelter Schicksalsberg. Kein Wunder, dass es mich da immer wieder hinaufzieht.
Wobei es nicht das Schlechteste ist, sich mit den Reuttener Seilbahnen ein paar Höhenmeter (genau gesagt 810,50) zu sparen.
Verlassenes Paradies.
Aber gleich auf den ersten Metern überkommt einen bei aller Vorfreude doch ein Schuss Wehmut: Eigentlich hat ja der Alpenblumengarten am Hahnenkamm fest zu dieser Tour gehört. Doch den gibt es seit drei Jahren nicht mehr. Den Pensionisten der Bergwacht wurde die Pflege zu schwer, und Höfens Bürgermeister Vinzenz Knapp scheiterte bisher in seinem Bemühen, Nachfolger zu finden. Ganz will er die Hoffnung aber nicht aufgeben: „Vielleicht gibt es ja doch den einen oder anderen, der sich da engagieren will. Das würde mich auf jeden Fall sehr freuen“, sagt er der RUNDSCHAU. Für uns ist das freilich nur eine kurze Reminiszenz. Wir müssen weiter hinauf. Und wollen das auch. Denn die Köllenspitze zieht uns da geradezu magisch an. Ebenso wie der Gimpel daneben. Und natürlich die Rote Flüh.
Lieber Freiheit als Karriere.
Das mag schon dem einstigen Gräner Pfarrer Johann Rief vor rund 250 Jahren so gegangen sein, von dem Karlheinz Eberle auf der Internet-Seite verren.at erzählt. Der Rauther Bub hat offenkundig enormes theologisches Talent und sollte eine große kirchliche Laufbahn einschlagen.
Ihm freilich war die erste Stufe der Karriereleiter schon gut genug. Seelsorger in Grän zu sein – das schenkte ihm mehr Freiheit als ein hoher Posten beim Bischof oder im Vatikan. Und so konnte der „Herr Hans vom Bichl“ (wie man ihn wegen seines Widums auf einem Hügel nannte) unbedrängt von der Macht der Konventionen seiner großen Passion frönen: den Bergen.
Dafür absolvierte er sogar ein Fitnesstraining (wie man heute wohl sagen würde). Er stieg aufs Dach des Pfarrhauses, balancierte den Giebel entlang und übte an der Traufe den Handstand. Das präparierte ihn bestens für seine Klettertouren an Köllenspitze, Gimpel und Roter Flüh. Die alles andere als leichten Zacken dort konnten ihm nichts anhaben. Er starb 1831 im gesegneten Alter von 77 Jahren.
Wenn man auf der Roten Flüh steht und auf das Kletterparadies von heute schaut, kann man vor solch einer Leis-tung in solch einer Zeit nur den Wanderhut ziehen. Doch es kommt einem auch eine Frage in den Sinn: Warum heißt dieser Berg eigentlich so?
Nun, der zweite Teil wird auf das althochdeutsche Wort für Felswand zurückgeführt. Und das Rot soll vom roten Kalkgestein kommen, das beim Sonnenuntergang so herrlich funkelt. Und viele an das Rot der Liebe erinnert. Aber von nun an geht’s bergab. Zu einer zünftigen Tour (wie dieser) gehört natürlich auch eine zünftige Einkehr. Und während des Abstiegs gen Nesselwängle bietet sich dazu natürlich das Gimpelhaus optimal an.
Ein herrliches Fleckchen Erde. Da dachte sich wohl auch in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Adalbert Guem aus Nesselwängle. „Dort wollte der Opa eine Hütte bauen und sonst nirgends“, sagt seine Enkelin Christiane, die offenkundig genauso wie ihr Opa verliebt in diesen Platz ist. Mit viel Einsatz erfüllte er sich seinen Traum, baute immer wieder an, wurde dabei von seinem Sohn Heinrich unterstützt – und 1973, als ein Brand vermeintlich alles zunichte machte, hatte das Gimpelhaus in etwa schon die Dimension von heute. Immerhin 175 Leute können dort unterkommen, bevor nichts mehr geht. Aber die Guems gaben nicht auf und bauten von Neuem auf.
Seit der Jahrtausendwende arbeitete Christiane bei ihren Eltern mit, seit 2012 ist sie selbst die Chefin und leitet den Betrieb mit ihrem Lebensgefährten Martin Oberstaller, der auch in der Küche zaubert und dessen Hausmannskost mit Gulasch, Schnitzel, Käsknödeln und Apfelstrudel die Gäste immer wieder loben.
Das Gimpelhaus trägt Christiane förmlich im Blut: „Da bin ich geboren, das ist meine Heimat.“ Und deswegen ist sie mit Herzblut und Leidenschaft vom 1. Mai bis zum dritten Sonntag im Oktober dort droben: „Unten im Tal bleiben zu müssen, das wär scho schlimm. Mich zieht nix runter, solang die Hütte offen ist.“ Diese Begeisterung hat offensichtlich bereits die vierte Generation der Guems ergriffen: Eva und Maja, die Kinder von Christiane und Martin, sind in den Ferien und an den Wochenenden eifrig mit von der Hütten-partie.
Der Abstieg nach einer solch gemütlichen Einkehr ist dann kein Problem mehr. Und wenn man Glück hat, kommt man genau im richtigen Moment unten an: Dann, wenn die Rote Flüh im Abendlicht funkelt.
Strecken-Stenogramm.
Start: Bergstation Hahnenkammbahn, Ziel: Bushaltestelle Nesselwängle, Länge: gut 12 Kilometer, Höhenunterschied: rund 700 Meter bergauf, rund 1000 Meter bergab, Dauer: rund 5,5 Stunden.