Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Kapellengeschichte Teil 40 – „Nicht nur lieb und tugendhaft“

Ein Bild in der Kapelle am Spitzeck widmet sich der Kindheit Jesu

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s ins Rotlechtal.
3. Oktober 2022 | von Von Jürgen Gerrmann
Mit dem Bohrer in der Hand: so stellte sich ein unbekannter Künstler in der Kapelle am Spitzeck im Rotlechtal die Kindheit Jesu vor.    RS-Foto: Gerrmann
Bildergalerie Kapellengeschichte „Kapelle am Spitzeck“_RS-Fots_Jürgen Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann

Einsam steht sie leicht erhöht über der Straße von Rinnen nach Namlos. Mit dem Auto kann man sie nicht erreichen: Zu der Kapelle am Spitzeck kommt man nur zu Fuß. Einen Namen eines Heiligen trägt sie nicht,  das Gemälde über dem Altar des „Mauerbaus über rechteckigem Grundriss mit eingezogenem Rundchor und spitzbogig geschlossenen Fensteröffnungen“ (so die Beschreibung des unter der Nummer 24821 im Tiroler Kunstkataster eingetragenen Denkmals) ziert die Muttergottes mit dem Kinde. Wenn nicht gerade Motorräder auf der bei Bikern aus nah und fern so sehr beliebten Berwang-Namloser Straße vorbeidröhnen, kann man die Idylle an und in dem aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stammenden Bau mit dem „steilen, schindelgedeckten Satteldach und gotisierendem Giebelreiter“ (so nochmals das Kunstkataster) mit dem Blick Richtung Höbelekopf so richtig genießen.

VOM ROTLECHBAUER ERBAUT. Sensationelles findet man dort nicht, aber das tut der Atmosphäre der Innigkeit keinerlei Abbruch. Und wenn man einige Zeit in dem Kirchlein verweilt, dann fällt der Blick sicher nicht nur auf die Parten für den Rotlechbauer Josef Zobl („Ein Denkmal hab ich mir erbaut, Spitzegg hochauf zum Himmel schaut“) und seiner leider wohl „einen Großteil ihres Lebens kranken“ Frau Josefa, die aus Kalzhofen bei Oberstaufen im Allgäu stammte, sondern auch auf ein Bild, das den kleinen Jesus mit seinen Eltern zeigt. In den Evangelien des Neuen Testaments findet man ja so gut wie nichts über die Kindheit Jesu: Lediglich Lukas berichtet, wie der Zwölfjährige im Tempel mit den Glaubenslehrern disputiert. Zuvor heißt es bei ihm lediglich: „Das Kind aber wuchs und wurde stark und voller Weisheit und Gottes Gnade war bei ihm.“ Dann kommt bis zur Taufe im Jordan nichts mehr aus den ersten Lebensjahren. Was aber nicht heißt, dass nichts darüber geschrieben worden wäre. Zu den Apokryphen (also Texten, die nicht in die Bibel aufgenommen wurden) zählt aus das „Kindheitsevangelium“, das vermutlich  gegen Ende des 2. Jahrhunderts ein unbekannter Autor, der in  vielen Handschriften als Thomas der Israelit bezeichnet wurde, verfasste.

GROSSE WUNDER EINES KLEINEN BUBEN. Und der schrieb auch dem kleinen Jesus schon große Wunder zu. So erzählt er zum Beispiel, dass der sechsjährige Bub am Sabbat mit seinen Freunden in einer verlassenen Lehmgrube Vogelfiguren gebastelt und dies einem alten Rabbiner missfalle habe, weil so etwas am geheiligten Tag der Ruhe nicht erlaubt sei. Das brachte ihm Widerworte des kleinen Burschen ein, die ihn so empörten, dass er die Basteleien zertreten wollte. Jesus aber kam ihm zuvor, klatschte in die Hände und sagte den Figuren, sie sollten schnell davonfliegen – und die wurden tatsächlich lebendig und flatterten weg. Diese Geschichte taucht in abgewandelter Form übrigens sogar im Koran auf (in der Sure 5).
Schon als Kind soll Jesus laut diesem Evangelium Tote zum Leben erweckt haben. Konkret den kleinen Zenon, mit dem er auf den Flachdächern von Nazareth herumtollte und der von dort in die Tiefe stürzte und tot auf der Straße liegen blieb. Einige Kumpels der beiden (in abweichenden Versionen sind es Nachbarn) werfen ihm daraufhin vor, seinem Freund einen Schubs verpasst zu haben. Das will der Sohn von Maria und Josef nicht auf sich sitzen lassen, sagt zu Zenons Eltern, sie sollten ihr Kind doch selbst fragen und fordert seinen Kameraden auf: „Erwache!“ Was der dann prompt tut und berichtet, er sei einfach daneben getreten und Jesus daher völlig unschuldig. Mit einem eigenen Missgeschick hat er keinerlei Problem: Seine Mutter hatte ihm den Auftrag gegeben, vom nahen Brunnen Wasser zu schöpfen. Doch der Krug, den sie ihm mitgegeben hatte, rutschte ihm aus der Hand zerbrach. Nicht weiter schlimm: Jesus nimmt einfach seine Schürze, lässt das Wasser dort hineinrinnen und bringt es nach Hause, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen verschüttet worden wäre. Als Kind war Jesus laut Thomas dem Israeliten übrigens keineswegs nur so sanftmütig wie er als Erwachsener beschrieben wurde. Jähzorn war ihm keineswegs fremd. Und der reichte sogar bis dahin, einen Kumpel tot umfallen zu lassen, nur weil ihn der angerempelt hatte: „Du sollst Deinen Weg nicht fortsetzen!“ Einen anderen, mit dem er beim Spielen herumgestritten hatte, ließ er „verdorren wie einen Baum und weder Wurzel noch Blätter noch Frucht tragen“. Kein Wunder also, dass sich die Eltern dieser Kinder bei Josef bitter beschwerten und ihn sogar aus dem Dorf jagen wollten: „Es sei denn, Du lehrst ihn, zu segnen statt zu verfluchen. Er bringt ja unsere Kinder um!“ Und ebenso erstaunt es nicht, dass Josef den Bub zur Rede stellt: „Warum tust Du das? Die Leute leiden unter so etwas, und daher hassen und verfolgen sie uns!“ Der Kleine zeigt allerdings keine Reue und lässt die, die ihn daheim angeschwärzt hatten, stattdessen kurzerhand erblinden. Den Lehrer Zachäus blamiert er in einer Diskussion über Buchstaben. Und der ist völlig verzweifelt: „Ich bin mir der Schande bewusst, dass ich, ein Greis, von einem Kind besiegt worden bin!“
Doch kommen wir zu positiveren Geschichten. Mancher Heimwerker wäre froh, solch einen Sohn zu haben wie Jesus. Laut Thomas soll nämlich Josef als Zimmermann hauptsächlich Pflüge und Joche gefertigt  haben. Am Auftrag eines reichen Mannes, für ihn ein Bett zu schreinern, scheiterte er: Er hatte die Brettern unterschiedlich lang gesägt. Doch Jesus konnte da locker helfen, zog einfach am kürzeren Brett - und das Malheur war behoben. 19 Kapitel umfasst dieses Kindheitsevangelium, das es nicht in die Bibel geschafft hat (und wenn man es liest, kann man die Entscheidung der frühen Christen auch nachvollziehen). Das letzte widmet sich dem Ereignis, das auch Lukas beschrieben hat: dem Besuch im Tempel. Warum es niedergeschrieben wurde, ist nicht völlig klar, zumal es (wie die evangelische Theologin Judith Hartenstein schreibt) „nicht versucht, das in Jesus in die Welt gekommene Heil zu schildern, sondern anschaulich schildert, wie das Leben eines Kindes, das schon als Sohn Gottes mit aller Macht ausgestattet zur Welt kommt, aussehen könnte“. Und das ist ein ganz wichtiger Aspekt: In der Antike kannte man keine Kinderrechte. Die Kleinen waren der Macht der Großen ausgeliefert. Und diese Geschichten sollten wohl zeigen, das genau das für Jesus nicht galt. Daher werde er (wie wiederum Hartenstein sagt) eben nicht als „besonders lieb und tugendhaft gezeigt, sondern von seiner außerordentlichen Einsicht und Macht erzählt“.
Obwohl es nicht zur „offiziellen“ Bibel gehört, hat  dieses Evangelium doch schon seit dem Mittelalter die Fantasie der Menschen inspiriert und auch Künstler angeregt. Nicht nur im Klosterneuburger Evangelienwerk aus dem 14. Jahrhundert. Sondern auch in der kleinen Kapelle am Spitzeck.

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