Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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„Breit Deine Flügel aus!“

16. Juli 2019 | von Nina Zacke
Viermal Anna Dengel – dargestellt von Luise Knittel, Eva-Maria Kleiner, Janine Köpfle und Frida Kammerlander (von oben). RS-Fotos: Gerrmann

Das neue Stück auf der Geierwally-Bühne widmet sich grandios einer großen Tochter des Lechtals


Ein ganzes Leben in gut zwei Stunden auf einer Bühne nicht nur zu spiegeln, sondern leuchten zu lassen – das ist ein schwieriges Unterfangen. Viele sind daran gescheitert. Claudia Lang-Forcher meisterte diese Herausforderung schlichtweg grandios: Die Premiere von „Anna Dengel – Mutter der Mütter“ auf der Geierwally-Bühne in Elbigenalp wurde zu Recht zum umjubelten Ereignis. Kein Wunder also, dass man sich sputen muss, wenn man für die restliche Spielzeit noch Karten ergattern möchte.

Von Jürgen Gerrmann

88 Jahre währte das Leben des Steeger Bauernmädchens Anna Dengel, eine wahrlich biblisches Alter. Das kann man unmöglich mit einer einzigen Schauspielerin in den Griff bekommen. Bei Claudia Lang-Forcher hieß es daher: aus eins mach vier!
Nicht nur ein pfiffiges, sondern auch ein besetzungstechnisch überzeugendes Konzept: Von Frida Kammerlander als kleiner Anna, der das Schicksal (oder Gott?) die Mutter entreißt und die sich mit der unsäglichen „Warum grade ich?“-Frage konfrontiert sieht, über Janine Köpfle, die aus diesem Schmerz die Motivation zieht, ihren Weg zu gehen („Wenn i Doktor gwea wär, hätt' i Di gsund gmacht, Mama!“), aber auch an ihrem Einsatz zu zerbrechen droht, und Eva-Maria Kleiner als starke Frau, die alle Widerstände überwindet und sich einen Traum erfüllt, der heute nicht nur lebt, sondern Wirklichkeit ist, bis hin zu Luise Knittel als respektierte, aber auch erschöpfte Ordensfrau („Mama, i bin so miad!“) agierten alle einfühlsam, glaubwürdig, authentisch – einfach großartig eben.
Die Spannweite der Emotionen, die Annas Dengels Leben in sich barg, ist eine wahrlich gewaltige Herausforderung für Laienmimen: Trauer und Hoffnung, Entsetzen und Kampfeswille, Aufbruch und Enttäuschung, Resignation und Euphorie, Zweifel und Gottvertrauen. Aber alle vier schlüpften nicht nur in ihre jeweilige Rolle – sie füllten sie buchstäblich aus, so, dass man unweigerlich dachte: „Ja, so muss es gewesen sein!“
BiOGRAFISCHES STÜCK.

Auch weil Claudia Forcher-Lang ein biografisches Stück geschrieben hat, dessen Thema wirklich Anna Dengel ist. Sie ist die zentrale Figur, um die sich alles dreht. Aber gerade deswegen kommen die Facetten, Schattierungen, Nuancen, Probleme umso wirkungsvoller zur Geltung.
Denn dieses Stück hat mehr als nur eine Ebene. „Breit Deine Flügel aus!“, sagt die Mama, schon vom Tode gezeichnet, ihrem Kind. Es ist der Satz, der die ganze Geschichte, die ganze Inszenierung trägt, der in einem nachklingt, in einem nachhallt.
Denn, wer kennt das nicht: Es kann manchmal verdammt schwer sein, seine Flügel auszubreiten, sich getragen zu fühlen, sich zu träumen und zu fliegen zu trauen. Manchmal nimmt man an sich nur gestutzte Flügel wahr, alles wird zu schwer.
Davor verschließt dieses Stück nicht die Augen, und gerade daraus schöpft es seine Kraft.
DIE MACHT DER TRADITION.

Zu den Themen, die da im wahrsten Sinne des Wortes eine Rolle spielen, gehört auch die Macht der Tradition, die gerade dann gnadenlos wird, wenn man nicht deren eigentlichem Sinn nachspürt. Und zwar nicht nur vor 100 Jahren. Der Satz „Das war schon immer so“, fällt auch heute noch tagtäglich, und damals wie heute macht er starr, lähmt, lenkt ab vom wirklich Wesentlichen. Und so ist und bleibt Anna Dengels Überzeugung: „Man darf Veränderung nicht scheuen, wenn's nötig ist“, zeitlos aktuell.
Und das gilt auch für die Überforderung – gerade derer, die für andere da sein wollen und für andere da sind. Die nicht gelten lassen wollen, dass eben jeder sich selbst der Nächste ist – und dabei an sich selbst zuletzt denken. Dieser Ritt auf der Rasierklinge zwischen Pflichtbewusstsein und den eigenen Bedürfnissen ist nichts von gestern, ihn kennen auch heute noch viele Ehrenamtliche. Und nicht alle haben das Glück, wie Anna Dengel jemanden zu haben, der auch mal „Stopp!“ sagt.
HOFFNUNGSVOLLE BOTSCHAFTEN.

Deren Gottvertrauen wird zwar auch in diesem Stück immer wieder auf die Probe gestellt, gerade in den Momenten des Zweifels oder auch der Verzweiflung. Aber hier hält Claudia Lang-Forchers Drama ja auch positive, hoffnungsvolle Botschaften bereit: Dass die erschöpfte junge Ärztin daheim in Tirol wieder zu Kräften kommt. Dass ihr gerade aus der Kirche heraus – die sie mit ihrem starren und sturen Festhalten an aus dem Mittelalter stammenden Gesetzen, Regeln und Normen oft über den Rand der Verzweiflung hinaus brachte – in Gestalt des Paters Rimmel (hervorragend gespielt von Stefan Bauer) Rat und Mut geschenkt werden, den eigenen Weg zu gehen. Dass man sich nicht selbst zugrunde richten muss, um die ganze Welt zu retten, sondern es auch ein Ziel sein kann, sie „ein bissle“ heiler zu machen. Und dass das Gute letztlich so ansteckend ist wie das Böse.
Doch auch Menschen, die Gutes tun wollen, sind vor Konflikten nicht gefeit. Das blendet das Stück ebenfalls nicht aus: nicht zuletzt im Verhältnis Anna Dengels zum Pater Mathis, den Jürgen Griesser einfach exzellent verkörpert. Es ist nicht leicht, den Übergang vom verständnisvollen Freund zum Kontrahenten, ja Rivalen in Nuancen erlebbar zu machen. Denn die Eitelkeit ist ein schleichendes Gift, wirkungsvoll, wie die Angst vor dem Machtverlust (und dazu noch an eine Frau!).
EIN TOLLES ENSEMBLE.

Überaus überzeugend agierte auch Claudia Chauvin als Miss Willis, die mal Wegbegleiterin, mal Wegbereiterin ist, mal resolut auftritt, dann wieder Trösterin und Mahnerin sein muss. Mit all dem kam sie prima zurecht.
Ja, und dann ist da noch der grandiose Bernhard Wolf, der seine enorme Wandlungsfähigkeit nun innerhalb eines einzigen Stückes regelrecht zu zelebrieren versteht: Vom irischen Rektor, der der jungen Tirolerin (letztlich vergebliche) Avancen macht, über den US-Kardinal Patrick, der seine (Vor-)Urteile überwindet und Anna Dengel die Bahn ebnet, ihren eigenen Orden (eine Delegation der Missionsärztlichen Schwestern erlebte die Premiere mit) zu gründen, bis zum gebrechlichen Papst Pius XI., der das Tabu bricht und Ordensleuten den vollen medizinischen Dienst gestattet – eine schier unglaubliche Spannweite an Charakteren deckte er fantastisch ab.
Judith Schmid als Tänzerin ließ die Übergänge zwischen den Szenen in Anna Dengels Leben und auf der Bühne zum Erlebnis werden.
Und einen enormen Anteil an der Faszination dieser Inszenierung hatte auch Simone Kammerlander als Mutter, die ihr „kloans Zeisele“ durch alle Höhen (und vor allem) Tiefen begleitet. Gerade die Szenen, in denen sie nichts spricht, gehen dank ihrer Mimik und Gestik unter die Haut.
Kurzum: Allen auf der Bühne war ihre Leidenschaft fürs Theaterspielen im Allgemeinen und die Geierwally-Bühne im Besonderen anzumerken – sei es nun Sigi Werting als Vater, die Kinder und Jugendlichen, Luthien Maier, Paul Kammerlander, Jacob Matti und Marcel Lorenz, Mieke Geens als Jane, Gaby Lorenz als Monica Neuhaus oder die Schwestern Alexandra Bilgeri, Gerti Wolf, Bernhard Singer als Bürgermeister, Michaela Togan, Monika Dengel und Petra Singer, alle hatten ihren Anteil am Erfolg.
Nicht vergessen darf man indes das Bühnenbild von Michael Bachnetzer, Ernst Schnöller und Mathias Gritsch: Nach der Opulenz des vergangenen Jahres dominierte nun die Schlichtheit und setzte (zusammen mit Christoph Kammerlanders Musik und den Koschristoph Kammerlander, Leidenschaft, tümen von Ingrid Perl, Agnes Baldessari und Ruth Hauser) das Tüpfelchen aufs i.
Sie alle breiteten ihre Flügel aus. Und flogen los. Mitten in die Herzen ihres Publikums.

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