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Ein Unikum in der Klause

Christus am Stein in Ehrenberg gibt heute noch Rätsel auf

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s in die Ehrenberger Klause.
3. Jänner 2022 | von Jürgen Gerrmann
Der leidende Erlöser lädt in der Kapelle Christus am Stein in der Ehrenberger Klause zum Meditieren ein. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Google weiß alles? Ob das wirklich so stimmt oder es doch die eine oder andere Lücke im Algorithmus des US-Großkonzerns gibt, sei mal dahingestellt. Sicher ist indes eins: Die weltgrößte Suchmaschine kennt nur eine einzige Kapelle, die den Namen Chris-tus am Stein trägt. Und die ist zwar auf den ersten Blick unscheinbar, aber doch ein Highlight der Burgenwelt am Reuttener Ehrenberg – sofern man sie nicht übersieht.  Es lohnt sich auf jeden Fall, nicht achtlos an dem kleinen Kirchlein in der Nähe des Salzstadels vorbeizugehen, sondern auch als Einheimischer mal die Klinke hinunterdrücken und hineinzugehen – denn nicht allzuviele Andachtsstätten dieser Art sind auch im Winter geöffnet. Und auch wenn zurzeit Hochsaison ist: Hier kann man zur Ruhe finden. Es ist ein stiller Ort inmitten der Hektik zwischen den Jahren.

SOLDAT ALS KÜNSTLER?
Vieles in der Geschichte der Kapelle liegt freilich im Dunkeln, wie nicht zuletzt Reuttes Historiker Dr. Richard Lipp in seiner „Kirchengeschichte von Breitenwang und Reutte“ deutlich macht. Ihre Wurzel reichen auf jeden Fall in die Zeit Maria Theresias zurück, die zwischen 1740 und 1780 in der  Habsburger Monarchie regierte. Der von Lipp zitierten Legende nach soll ein Soldat aus der damals am Ehrenberg stationierten Garnison den zu Boden gestürzten Jesus geschnitzt und auf einen großen Stein neben der Kaserne platziert haben: „Damit das Wetter dem Bild nicht schade, bauten die Leute eine kleine Kapelle aus Holz darüber, worin lediglich vier bis fünf Personen Platz fanden.“ Bei diesem „Notquartier“ sollte es nicht bleiben. Schon bald startete eine „Spendenaktion“, in die sich nicht zuletzt Fuhrleute einbrachten, die diesen damals gefährlichen Weg am Katzenberg zu passieren hatten. Bis zum Jahr 1806 kamen dabei 350 Gulden zusammen. Das auf heutige Verhältnisse umzurechnen, ist relativ schwierig, der historische Währungsrechner der Österreichischen Nationalbank reicht nicht weiter als 1820 zurück, und damals hätte diese Summe nach diesen Berechnungen heute rund 7200 Euro entsprochen. In Niederbayern wiederum hätte man damit rund 14 Knechte für ein Jahr beschäftigen können – oder eben einen Knecht für 14 Jahre. Auf jeden Fall handelte sich um eine durchaus erkleckliche Summe, so dass man 1807 ans Mauern  gehen konnte. Zwei Jahre später ging indes das Geld aus – kurz bevor man mit der Kapelle fertig war. Als Retter in der Not erwies sich dabei der damals frisch gewählte Breitenwanger Dekan Franz Xaver Zobel, dem man das Amt des Kirchprobstes angetragen hatte. Der machte sich sofort ans Werk und sorgte dafür, dass das kleine Kirchlein innen und außen ausgebaut wurde. 1812 konnte man es einweihen und die erste Messe darin lesen. 1827 kam dann ein Turm hinzu, der mit 156 Gulden (laut historischem Währungsrechner heute etwa 3600 Euro) zu Buche schlug.
Die Skulptur, die der Kapelle ihren Namen gab, ist heute noch geheimnisumwittert. Außer der Legende von dem offensichtlich künstlerisch hochbegabten Soldaten zitiert Lipp noch zwei andere Theorien: Die eine will darin ein Werk des berühmten Pfrontener Bildhauers Maximilian Hitzelberger (der unter anderem die Hochaltarfiguren in der Heiterwanger Pfarrkirche sowie eine Kreuzigungsgruppe im Füssener Franziskanerkloster schuf) sehen, die andere hält seinen Pfrontener Landsmann Joseph Stapf (der auch in der Wilthener Basilika arbeitete) für den Schöpfer. Aber nichts Genaues weiß man nicht.

JESUS UNTER DEM KREUZ.
Wer sich Zeit nimmt und den Christus am Stein meditativ betrachtet, für den dürfte diese Debatte unter Kunsthistorikern eher zweitrangig sein. Zu eindrucksvoll ist diese Skulptur. Und das, obwohl die Szene („Jesus fällt unter dem Kreuz“) in der Bibel gar nicht enthalten ist – in der in der katholischen Kirche gepflegten Andachtsübung des Kreuzwegs taucht sie indes gleich dreimal auf. Vielleicht deswegen, weil Jesus in diesen Momenten den Menschen ganz nah sein kann. Denn es dürfte wohl kaum jemand geben, der sich darin nicht wiederfindet. Schließlich kennt wohl jeder diese Momente, in denen man glaubt, etwas kaum noch tragen und ertragen zu können, weil das, was auf einem lastet, einfach zu schwer zu sein scheint – und wahrlich nicht nur in Corona-Zeiten. Blickt man dem Christus in der Klause in die Augen, dann hört man förmlich eine innere Stimme: „Musste das denn jetzt auch noch sein? Womit habe ich das verdient?“ Gewissermaßen ein stummes und vorgezogenes „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Der Stein unter der rechten Hand mutet da nicht etwa wie ein Symbol der Stärke an, als der er in der Bibel oft zu finden ist. Eher erinnert er an Hiob, der klagt und fragt: „Ist doch meine Kraft nicht aus Stein und mein Fleisch nicht aus Erz. Hab ich denn keine Hilfe mehr, und gibt es keinen Rat mehr für mich?“ Ja, hier erinnert er mehr an den letzten Strohhalm, an den man sich an der Verzweiflung klammert. Die Kette um das rechte Handgelenk nimmt wohl eine Stelle aus den Klageliedern auf: „Er hat mich in schwere Fesseln gelegt.“ Und dennoch kann einem Christus gerade in dieser Situation der Niedergeschlagenheit und Verzweiflung ganz besonders nahe sein. Und das wird auch durch das eiserne Gitter aus dem Jahre 1816, dessen teilweise Vergoldung der Landrichter Balthasar Marberger zwei Jahre später aus eigener Tasche bezahlte, in keiner Weise beeinträchtigt. Ganz im Gegenteil: Auch hier lohnt sich der Blick aufs Detail.

ORA ET LABORA.
Und wenn man dann auch noch nach oben schaut, dann sticht einem noch etwas Rätselhaftes ins Auge: der Schriftzug „Ora et labora“, der ja zumeist dem heiligen Benedikt zugeschrieben wird. Das stimmt indes so nicht. In dessen Regel taucht dieses geflügelte Wort nämlich gar nicht auf. Es handelt sich lediglich um eine spätere kurze Zusammenfassung der Grundsätze dieser klösterlichen Gemeinschaft, in der das Beten (ora) und die körperliche Arbeit (labora) eine ganz zentrale Rolle spielen (und dann kommt noch die geistige Beschäftigung durch lesen – lege!  – hinzu). Die Popularität des Mottos wurzelt wohl in einem mittelalterlichen Schriftbild, in dem „Ora et labora“ nicht in der Waagrechten (wie auch in Christus am Stein) geschrieben, sondern kreisrund angeordnet war. Und so fungierten die drei letzten Buchstaben des „labora“ zugleich als die ersten drei der Glaubensempfehlung: „Oraetlab/oraetlab/ora...“
Und um den Reigen der Rätsel noch komplett zu machen, sollte man beim Weitergehen das Passionskreuz vor der Kapelle nicht übersehen, auf dem sämtliche Leidenswerkzeuge Christi abgebildet sind. Solche Andachtsbilder waren gerade während der Gegenreformation sehr beliebt und laut Richard Lipp im Allgäu sehr häufig. Im Außerfern sei indes nur ein einziges außer diesem in der Klause bekannt – in Holzgau.

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