Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Von der Sünderin zur Heiligen

In der Kapelle in Gaicht kann man Sankt Afra begegnen

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und hat der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s nach Gaicht.
5. Dezember 2022 | von Jürgen Gerrmann
Die heilige Afra ziert den Altar in der Kapelle Mariä Heimsuchung auf  der Gaicht. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Nichts im Leben ist von Dauer. Oft sogar der Name einer Kapelle nicht. In der Katastermappe des Tiroler Landesarchivs zum Jahr 1856 wird das kleine Kirchlein auf der Gaicht der heiligen Dreifaltigkeit zugeordnet, aber schon seit Längerem trägt der Bau aus dem Jahr 1695, der vor sieben Jahren dank der großzügigen Unterstützung von Ursula Frischauf-Freudenberg renoviert werden konnte, den Namen Mariä Heimsuchung. Wer auf einer Wanderung oder Radtour hier zum ersten Mal vorbeikommt, der wird ob der Schönheit im Inneren dieser Kapelle ins Staunen und Schwärmen kommen. Und vielleicht auch drüber rätseln, wer denn die an einen brennenden Baumstamm gefesselte Frau sein mag, die die Skulptur auf der linken Seite des Altars zeigt.

PATRONIN DES BISTUMS AUGSBURG.
Sie ist gewissermaßen ein Zeugnis der langen Zugehörigkeit des Außerferns (besser gesagt: Des Dekanats Breitenwang) zum Bistum Augsburg, die erst im Jahr 1816 endete. Dessen Schutzpatronin ist noch heute eine Heilige mit dem hierzulande eher ungewöhnlichen Namen Afra. Manche führen ihn darauf zurück, dass sie aus Afrika stammte – konkret aus der römischen Provinz Africa proconsularis, deren berühmteste Stadt Karthago der alte Erzfeind des antiken Roms war. Also aus dem heutigen Tunesien. Andere wiederum sehen in ihr eine Königstochter aus Zypern. Letztere Variante der Legende besagt, dass sie nach der Ermordung ihres Vaters mit ihrer Mutter Hilaria nach Rom geflohen und von der im Herzen des Imperiums der Liebesgöttin Venus übergeben worden sei. Die junge Frau habe dann geträumt, sie sei für das Amt einer Königin von Augsburg bestimmt und habe Frau Mama überzeugt, deshalb über die Alpen in die Provinz Rätien und deren Hauptstadt Augusta Vindelicorum  aufzubrechen. Und dabei müssten die beiden zur Regierungszeit des Kaisers und Christenhassers Diokletian (also Ende des 3. Jahrhunderts) ja eigentlich auch durchs Außerfern gekommen sein. Wie dem auch sei: Das mit der Krönung zur Königin wurde erst einmal nichts. Statt dessen eröffnete Afra mit drei anderen jungen Damen ein Etablissement, das sich dem ältesten Gewerbe der Welt widmete. In dieses Haus der Freude verirrte sich dann ausgerechnet der Bischof Narcissus mit seinem Diakon Felix; sie waren aus Girona (im heutigen Katalonien) vor der Diokletianischen Christenverfolgung geflüchtet und suchten nun ein Nachtquartier. Die beiden hatten natürlich keine Ahnung, wo sie da hineingeraten waren und nahmen erfreut die Einladung der freundlichen Gastgeberin zum Abendessen an. Als die aus der Küche kam, sprach Narcissus ein Tischgebet, das Afra so berührte, dass sie dem Bischof zu Füßen fiel (eine deutliche Parallele zur „Sünderin“ aus dem Lukas-Evangelium) und darum bat, getauft zu werden. Unter ihren bisherigen Lebenswandel zog sie einen Schlussstrich und schloss ihr frühgeschichtliches Eros-Center. Was ihre Stammkundschaft indes ganz und gar nicht goutierte. Die griff aus Rache zu dem durch alle geschichtlichen Epochen hindurch beliebten Mittel der Denunziation und zeigte Afra beim Statthalter Diokletians an. Angesichts der Folgen muss das kurz nach 303 gewesen sein. Denn da hatte der Kaiser einen Erlass herausgegeben, in dem er die Zerstörung von Kirchen und die Vernichtung der christlichen Schriften forderte. Im Jahr darauf drohte er allen Christen, die nicht den alten römischen Göttern opferten, die Todesstrafe an.

LEGENDE UND BOTSCHAFT.
Bei Afra soll es nicht bei der Drohung geblieben sein. Der Wiener Professor Helmut Bouzek (übrigens Oberbrandrat von Beruf) wies vor gut zehn Jahren in einem Beitrag im Ökumenischen Heiligenlexikon darauf hin, dass in den Legenden zwei Versionen der Hinrichtungsart kursierten. Die Mehrheit neigt dem Verbrennen auf dem Scheiterhaufen zu, die Minderheit dem Anbinden an einen Baumstamm mit anschließender Enthauptung. Auf dem Altar von Gaicht wird wohl beides miteinander vermixt: Dort steht ja der Baumstamm in Flammen. So stolz die Augsburger auf ihre Afra sind: Liest man Bouzeks Text, so scheint es gar nicht einmal so sicher, ob sich all das wirklich an Lech und Wertach zugetragen hat. Er bemerkt dort nämlich auch, dass in jener Zeit mindestens noch sechs andere Orte existierten, deren Name ein „Augusta“ vorangestellt wurde: Raurica (heute: Augst bei Basel in der Schweiz), Emirata (Mérida in der spanischen Extremadura), Bracara (Braga im Norden Portugals), Traiana (Stara Zagora in Bulgarien, Treverorum (Trier an der Mosel) und Taurinorum (Turin in Piemont). Freilich: Selbst wenn all dies um Afra nur eine literarische Fiktion sein mag, so bleibt doch eine tröstliche und Kraft spendende Botschaft – Gott wendet sich allen Menschen zu. Auch den Verachteten und Ausgestoßenen. Allen „Moralaposteln“ zum Trotz.

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