Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
Artikel teilen
Artikel teilen >

„Ich würde es wieder tun!“

„Neu-Reuttener“ Nicolas Scheidtweiler schaffte Erstbesteigung des Purbung

Er kommt aus Paderborn und liebt die Berge und das Bergsteigen. Der Gedanke, den Lebensmittelpunkt „bergnah“ zu verlegen, führte Nicolas Scheidtweiler nach Reutte. Nach zehntägigem Probewohnen zu bleiben, sei die beste private Entscheidung der letzten Jahre gewesen, sagt er. Am 30. November gelang ihm, dem „Zuagroasten“, die Erstbesteigung des 6.465 m hohen Purbung.
20. Dezember 2021 | von Sabine Schretter
„Ich würde es wieder tun!“
Nicolas Scheidtweiler und Jost Kobusch (v.l.) auf dem Gipfel des Purbung. Fotos: Kobusch-Scheidtweiler
Von Sabine Schretter.
Nicolas Scheidtweiler, Jahrgang 1976, schlug zunächst die Offizierslaufbahn bei der deutschen Bundeswehr ein, war im Einsatz im Kosovo und in Afghanistan, wo er unter anderem ein landesweites Radionetzwerk mitentwickelte. Im Kosovo arbeitete Scheidtweiler als Redakteur für die Feldlagerzeitung „Maz&More“. Aktuell ist der Bergbegeisterte als freier PR-Berater und Employer Branding tätig. In Reutte zu leben erweise sich daher nicht nur aus bergsteigerischen Gründen als attraktiv, sondern Reutte  „ist für mich auch aus beruflichen Gründen ein guter Standort“, erzählt Scheidtweiler im Gespräch mit der RUNDSCHAU. Für den PR-Berater, der viele Kunden in Deutschland betreut, ist die sehr gute Anbindung des Außerferns ins Allgäu ein entscheidender Vorteil. Zudem liebt er die Natur, genießt die Ruhe – fernab des großen Massentourismus. „All das habe ich hier in Reutte gefunden. Und das schätze ich sehr. Jetzt gerade freue ich mich, dass die Skigebiete hier wieder offen sind.“

Hatte Lust darauf.
Früher sei er Marathon gelaufen und dann zum Bergsport gekommen. Er ordnet sich selbst als Bergsteiger auf durchschnittlichem Niveau ein. „Da gibt es sehr viel bessere Bergsteiger, als ich es bin.“ Für Vorhaben, wie es eben eine Erstbesteigung ist, gelten Prämissen, die nicht jeder erfüllt: Für eine Tour, die über mehrere Wochen geht, braucht man sehr viel Zeit, eine große mentale Ausdauer und vor allem auch das nötige Kleingeld. (13.000 Euro kostete das Projekt Erstbesteigung Purbung). Bei Erstbesteigungen bewegt man sich nicht auf bekannten Wegen, man weiß nicht, welche Bedingungen man vorfindet, worauf man sich einstellen muss. „Das ist der Unterschied zu Tagestouren, die über mehrer Stunden gehen. Eine Erstbesteigung ist ein Unternehmen, das sich über mehrere Wochen unter extremen Bedingungen erstreckt.“
Die Frage, wie man auf die Idee kommt, eine Erstbesteigung machen zu wollen, beantwortet Nicolas Scheidtweiler mit knappen Worten: „Ich hatte einfach Lust, das zu machen.“
Eigentlich hatte er sich das Seven-Summits-Projekt vorgenommen, wollte die höchsten Berge der sieben Kontinente besteigen. „Ich merkte aber, dass mir das zu ,normal‘ ist. Ich wollte mich nicht auf ,Touristenrouten‘ bewegen. Dann lente ich in Indonesien den Profibergsteiger Jost Kobusch kennen.“ Kobusch (Jahrgang 1992), der bereits einige Erstbesteigungen vorweisen kann, befand sich zu der Zeit gerade in Vorbereitung für sein Projekt, den Mount Everest erstmals im Winter ohne künstlichen Sauerstoff  zu besteigen und stieß auf den Purbung in Nepal. „Wir unterhielten uns, bei einer Erstbesteigung dabei zu sein, war ein reizvolles Ziel für mich. Ich schaute mir den Purbung auf Google Earth genauer an. Ja, das traute ich mir zu“, führt Nicolas Scheidtweiler weiter aus. Ein erstes Gespräch mit Kobusch hat er im März 2020 geführt. Die köperliche Verfassung passte, auch das für so eine Expedition notwendige Material  war vorhanden. Im August buchte Scheidtweiler dann den Flug nach Kathmandu.

Am Limit.
Von Kathmandu aus erreichten Scheitweiler und Kobusch ihr Basislager – mit Bus, Jeep und zwei Tagesmärschen zu Fuß. Vom Basislager unternahmen die beiden Bergsteiger zuerst   Erkundungstouren. „Schon da geriet ich das erste Mal an meine Grenzen, fragte mich, warum ich das eigentlich mache“, schildert Scheidtweiler die ersten Eindrücke. Zurück im Basislager blieben zwei Tage zur Regeneration, bevor es wirklich losging. Der nach der Erkundungstour bekannte Teil war überwunden, was folgte, war unbekanntes Terrain. „Man weiß nicht, wie es weitergeht, wie der Weg wird. Hier ist viel Erfahrung gefragt. Ich bewegte mich während der gesamten Tour am Limit, schaffte es aber, alles allein zu klettern. Jost hatte ein Seil für alle Fälle mit, das gab Sicherheit.“ Vom Lager 3 auf rund 5.850 Metern aus starteten Jost Kobusch und Nicolas Scheidtweiler um 4.30 Uhr Richtung Gipfel. Beide befanden sich in guter Verfassung, waren sehr konzentriert. „Eine große Herausforderung sind die Gletscherspalten. Es muss sehr genau und umsichtig ausgelotet werden, wie und wo man sie umgeht. Jost erwies sich einmal mehr als perfekter Partner. Er nahm mich ernst und nahm Rücksicht auf mich.“ Sehr fokussiert, darauf achtend, bloß nicht zu stolpern, erreichte Nicolas Scheidtweiler den Gipfel. Der folgende Abstieg hatte es in sich. „Ich war bei 100 Prozent, komplett am Limit. Vor allem beim Gegenanstieg war ich fertig, hatte Angst. Zurück im Lager kamen dann bei  mir die Emotionen hoch, da vergoss ich auch Tränen.“ Seine hohe Selbstdisziplin, sein konsequentes Training, die gute körperliche Verfassung und die große mentale Stärke zeichnen Nicolas Scheidweiler aus. Ja, er würde es wieder tun, lautet seine Antwort auf selbige Frage.

Ein Achttausender.
Ein weiteres Projekt befindet sich in der Pipeline. „2022 werde ich einen Achttausender, den Manaslu in Nepal besteigen. „Wie beim Projekt Erstbesteigung Purbung gilt auch hier: Diese Tour erfordert viel Zeit, Ausdauer und Geld. Mein Traum ist, den Manaslu ohne Sauerstoff zu besteigen, eventuell auch als Skitour. Bis es im August oder September 2022 losgeht, rückt das Skifahren in den Fokus. Ich möchte auch noch mehr Erfahrung in der Höhe sammeln“, blickt Scheidtweiler voraus auf ein Unternehmen, das ihn 15.000 Euro kosten und eine jener Auszeiten in seinem Leben werden wird, die er niemals missen möchte. Autark zu sein, sich Freiheitsgrade zu schaffen und dabei den eigenen  Weg zu gehen – das ist es, was Nicolas Scheidtweiler sucht – und nicht nur auf hohen Gipfeln, sondern auch an seinem neuen Wohnort, in Reutte, findet.
„Ich würde es wieder tun!“
Nicolas Scheidtweiler auf dem Gletscher am Weg zum Purbung.

Feedback geben

Feedback abschicken >
Nach oben