Was für die Wirtschaft selbstverständlich ist, bleibt Kindern und Jugendlichen meist schlichtweg versagt: Eine Stimme, die von politischen Entscheidungsträgern gehört wird. Sich gemeinsam stark machen für die Anliegen der Heranwachsenden wollen sich SOS-Kinderdorf und Katholische Kirche. Wo sich Kräfte zu diesem Zweck bündeln lassen, erklärten vergangene Woche SOS-Geschäftsleiter Wolfgang Katsch und Bischof Hermann Glettler im weltweit ersten Kinderdorf am Imster Weinberg.
Von Manuel Matt
Längst haben die wenigen Wolken am Himmel der Wintersonne das Feld überlassen, als Bischof Hermann Glettler über das Areal am Imster Weinberg streift, wo Hermann Gmeiner vor rund 100 Jahren den verwaisten Kindern der Nachkriegszeit ein liebevolles Zuhause schenkte. Begleitet wird das Oberhaupt der Diözese Innsbruck von Wolfgang Katsch, Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf im Westen des Landes. Es ist ein Besuch, der nicht nur dem Kennenlernen, der Würdigung von Gmeiners Lebenswerk dient, sondern in erster Linie als Symbol für den Schulterschluss zwischen Katholischer Kirche und SOS-Kinderdorf gelten soll. Die Schnittstelle: Kinder und Familien in Notsituationen.
Arbeit, Schule, alltägliche Probleme und die Sorge um die ungewisse Zukunft – alles Gründe, die Familien in Tirol und Österreich immer mehr unter Druck setzen, unterstreicht Katsch die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Studie: „Meistens reicht dann nur ein Auslöser wie Arbeitslosigkeit, Stress mit dem Partner – und das Familiengefüge bricht auseinander.“ Wenn das Zuhause zu zerreißen droht, müssen Betroffene nicht mehr zwangsläufig ins Kinderdorf – das Kinderdorf kommt zu ihnen, etwa in Form der Ambulanten Familienarbeit: Multiprofessionell aufgestelltes Personal, das Unterstützung vor Ort, auch in den entlegensten Teilen Tirols anbietet. „Die fahren bis ins hinterste Tal und auf den höchsten Berg“, verspricht Katsch.
„Erstaunliche Flexibilität“, die auch Hermann Glettler als Bischof der Diözese Innsbruck imponiert. Fremd ist das Feld der Katholischen Kirche nicht, die sich über die Caritas ebenso in der Familienhilfe engagiert. Konkurrenz herrsche aber nicht, so Glettler. Finanzielle Unterstützung der Kinderdorf-Angebote sei aufgrund der Zweckgebundenheit von Kirchenmitgliedsbeiträgen nicht möglich, doch werde eine praktische Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen gepflegt, die sich „gegenseitig den Ball zuspielen“. Als Verbündete betrachten sich Kirche und Kinderdorf auch gegenüber der österreichischen Politik, beispielsweise im gemeinsamen Auftreten gegen Kürzungen im Sozialbereich während der letzten Regierungsperiode. „Gute Ansätze“ hinsichtlich der Unterstützung von Familien ortet der Bischof aber im aktuellen Regierungsprogramm, auch die Sozialpolitik der Tiroler Landesregierung „lässt sich nicht schelten“. Dennoch: „Extrawünsche gibt’s noch immer“, erklärt Katsch.
Was noch eint: Die Suche nach Personal. „Wir finden meistens die notwendigen Sozialpädagogen und -therapeuten. Leicht ist es aber nicht, es bleibt angespannt“, erklärt Katsch. Besonders willkommen seien auch neue Kinderdorf-Mütter und -Väter. Die Kirche plagen derweil Nachwuchssorgen im pastoralen Bereich, beschreibt Glettler ein langanhaltendes Problem. Einen „Paradigmenwechsel“ sieht der Bischof aber im Umgang mit Kindern und Jugendlichen innerhalb der Kirche, speziell seit der Jugensynode in Rom vor zwei Jahren: „Sie werden gehört und ernst genommen, dürfen Freiräume gestalten, ohne den Wert von Ritualen aus den Augen zu verlieren.“
Die Zukunft muss nicht immer mit Sorge verbunden sein. Manchmal ist es auch Freude, etwa auf die beiden neuen Häuser im Imster Kinderdorf, die am 19. Juni feierlich eingeweiht werden. Der Bischof sei da natürlich wieder herzlich eingeladen. „Gerne“, verspricht der Bischof ein Wiedersehen im Sommer.