Rundschau - Oberländer Wochenzeitung
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Unter dem schützenden Mantel

Die Martinskapelle von Lechaschau erzählt von der Sehnsucht nach Geborgenheit

Sie sind in der Regel klein und unscheinbar, aber sie prägen das Außerfern auf eine sanfte und dennoch eindrucksvolle Art: die Kapellen in den kleinen Dörfern und am Wegesrand. Mancher beachtet sie gar nicht, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die Legenden zu den Heiligen, denen sie geweiht wurden, spiegeln auch die Freuden und Sorgen der Menschen wider, die dereinst hier lebten. Die RUNDSCHAU hat einige von ihnen besucht und der Geschichte ihrer Namensgeber nachgespürt. Heute geht’s zur Martinskapelle in Lechaschau.
1. Feber 2021 | von Jürgen Gerrmann
Maria bietet Schutz in Zeiten der Not: das herrliche Altarbild von Sankt Martin an den Steinwänden in Lechaschau. RS-Foto: Gerrmann
Von Jürgen Gerrmann.
Klein steht sie da. Vielleicht ist das sogar übertrieben. Möglicherweise wäre „winzig“ der passendere Ausdruck. Aber, wer sich mit der Kapelle kurz vor dem Ortsausgang von Lechaschau Richtung Allgäu befasst, der spürt schnell, wie großartig und wie besonders dieses Gebäude mit ein paar Quadratmetern Grundfläche ist: „Sankt Martin an den Steinwänden“ (oder das „Bachkirchele“) im Unterdorf. Wenn man sie fotografieren will, muss man aufpassen: Erstaunlich viele Autos fah-ren selbst im Lockdown auf der Straße direkt davor vorbei. Sie erinnern daran, wie wichtig dieser Verkehrsweg schon in alter Zeit war. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass mit Sankt Vitus in Oberletzen (dem Grenzort zum Gericht Aschau aus dem Norden) und St. Martin in Lechaschau (der ersten Kapelle Richtung Süden) zwei besonders schöne Kirchlein an diesem uralten Weg, den schon die Römer benutzten, aufeinander folgen. Und die Merkwürdigkeit, dass der Schutzpatron der Kapelle, der heilige Martin, nicht etwa über der Eingangstür, sondern auf der Seite zu finden ist, könnte auch damit zu tun haben: Denn, wenn man aus Richtung Füssen kam (oder kommt), dann sah (oder sieht) man ihn als Erstes. 

MAGNUS NEBEN DER TÜR.
Die enge Verbindung zu Füssen wird auch rechts von der Tür sichtbar: Der heilige Magnus (Sankt Mang) findet sich dort – mit dem von ihm bezwungenen (oder „gezähmten“?) Drachen. Magnus, Ulrich und Gallus – das sind ja die drei Heiligen, die die alpine Region zwischen St. Gallen und Tirol miteinander verbinden. Auch diese Kapelle zeugt davon. Als „volkstümliche Fassadenmalerei“ beschreibt das Tiroler Kunstkataster dies unter der Inventarnummer 28305. Im Grunde viel zu nüchtern-distanziert.

Die „ROTZKAPELLE“.
Früher dürften viele Außerferner eine wesentlich innigere Beziehung zu dieser Kapelle gehabt haben als die Kunsthistoriker. „Im Volksmund sagen wir Rotzkapelle zu Sankt Martin“, erzählt Diakon Toni Moser von der Pfarre Lechaschau. Warum das denn? „Weil dort die Schwabenkinder zu ihrem Dienst fern der Heimat verabschiedet wurden.“ Ja, man kann sich wirklich vorstellen, wie Eltern und Kinder hier an dieser Stelle Rotz und Wasser heulten, als die Kleinen aufgrund der bitteren Not im Außerfern hinaus in die Ferne gehen mussten, wo es ihnen oft schlecht, aber (wie vor einigen Jahren eine Ausstellung in der Wunderkammer in Elbigenalp zeigte) oft auch gut erging. Es kam eben immer auf den jeweiligen Dienstherrn an, und von beidem erzählen die Berichte dieser Menschen. Wenn man daran denkt, dann bekommt man vielleicht eine ganz andere Beziehung zu dem Altarbild, das einen zutiefst berührt, sobald man die Klinke der Tür heruntergedrückt hat und in den kleinen Raum eintritt: Es begrüßt einen Maria, die ihren schützenden Mantel über die Menschen hält. Ein Motiv, das im Mittelalter sehr beliebt war und leider immer mehr in Vergessenheit geriet.

DAS SYMBOL DES MANTELS.
Seinen Ursprung dürfte es in einem uralten Rechtsmittel haben: dem Mantelschutz. Schutz und Asyl fand man vor 1000 Jahren nicht durch einen förmlichen Antrag bei einer Behörde, sondern dadurch, dass eine hochgestellte Persönlichkeit den Mantel über einen legte. Auch eine Begnadigung wurde mit diesem Symbol vollzogen. Übrigens: Witwen, die nicht für die Schulden ihres Mannes aufkommen wollten, vermochten dies damit (rechtskräftig) zum Ausdruck zu bringen, indem sie ihren Mantel auf das Grab des Verblichenen legten. Diese Schutzmantelmadonna stellt zugleich eine Verbindung zur orthodoxen Kirche dar. Denn nach deren Überzeugung soll der selige Andreas Salós, der in die Geschichte der Kirche im Osten Europas als „Narr Christi“ eingegangen ist, schon im zehnten Jahrhundert gesehen haben, wie die Muttergottes in der Blachernen-Kirche in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) erschienen sei, ihren Schleier vom Kopf genommen habe und über die Gläubigen gebreitet habe. Die Schutzmantelmadonna von Lechaschau fasziniert einen- – - je länger, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. Manches gibt auch Rätsel auf: In der Liste der denkmalgeschützten Gebäude wird zum Beispiel für die „auf einem Felsen nahe der Straße gelegene Kapelle“ mit der Objektnummer 80789 angegeben, sie sei „vermutlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ erbaut worden. Im Tiroler Kunstkataster wiederum taucht völlig unvermittelt und ohne jeden Zusammenhang die Jahreszahl 1623 auf. Das verwirrt mich, und ich bin natürlich kein Kunsthistoriker, aber mein Gefühl als spirituell interessierter Wanderer und Wanderbuchautor sagt mir irgendwie: Dieses Altarbild hat sehr viel mehr mit 1623 zu tun als mit dem Spätbarock oder dem beginnenden Rokoko. Auch deswegen, weil das Motiv der Schutzmantelmadonna im 18. Jahrhundert schon mehr oder minder „out“ war. 1623 aber – das könnte viel besser passen. Karlheinz Eberle vermerkt auf seiner Internet-Seite verren.at für dieses Jahr nämlich: „Eine Ungezieferplage sucht die Bewohner von Reutte und seiner Umgebung heim. Im Winter herrscht Hunger.“ Im Jahr zuvor war die Pest wieder aufgeflammt, es gab ein Massensterben. Eberle zitiert Justinian Ladurners Beschreibung aus dem Jahr 1870: „Mit Grasbüscheln im Munde lagen die Leichen an den Zäunen umher, und oft gebrach es an Lebenden, um die Todten zu begraben.“
Da wäre es kein Wunder, sich nach einem Schutzmantel zu sehnen. Franz Slump aus Münster in Westfalen macht in seiner vor 21 Jahren erschienenen Arbeit über „Gottes Zorn – Marias Schutz“, die sich „Pestbildern und verwandten Darstellungen als ikonographischem Ausdruck spätmittelalterlicher Frömmigkeit und als theologischem Problem“ widmet, dabei auf einen bemerkenswerten Ansatz aufmerksam: Die Pest sei oft als „Strafe des zürnenden Gottes“ verstanden worden. Die Schutzmantelmadonna, also die Mutter seines Sohnes (hier eine fröhliche junge Frau mit „Bruder Sonne und Schwester Mond“, wie es der heilige Franziskus ausdrückte, an ihrer Seite), trete in dieser Bilderwelt als Gegenspielerin dieses Unheil bringendes Gottes auf. Er zitiert aus Klaus Schreiners Buch „Maria – Leben, Legenden, Symbole“: „Im Bild des Mantels, den Maria über von Angst und Not bedrängte Menschen breitet, fand das Vertrauen in die schützende Macht der Gottesmutter ihren stärksten Ausdruck.“ Ja, und da stellt sich Maria sogar gegen Gott selbst -– auf die Seite der Menschen. Und das macht gerade das Zeitlose dieser unscheinbaren Kapelle aus: Pest, Hunger, Schwabenkinder, Corona – seit eh und je sehnen sich Menschen nach Zuflucht, nach Sicherheit, nach Schutz, nach Geborgenheit statt Angst. Für mich ist dieses Motiv eines der schönsten der Christenheit. Der Mantel wiederum verbindet sie hier mit dem Schutzpatron dieser Kapelle: Der gute Martin ist mit seiner Geschichte hier zweifelsohne zu kurz gekommen. Aber keine Sorge: Martinskapellen gibt es im Außerfern noch genügend. Auch dortschauen wir noch vorbei. 
 

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